Nicolai Geddas
gesamte Sängerlaufbahn wurde über 5 Jahrzehnte von der Schallplatte begleitet.
Sie trug seinen Ruhm auch in Länder, in denen der Sänger niemals aufgetreten
war. Im Frühjahr 1989 folgte er gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Aino einer
Einladung zu einigen Konzerten nach Japan. Auch hier kannte man den Schweden.
Seine Gastspiele wurden bei den begeisterungsfähigen und disziplinierten
Japanern ein großer Erfolg.
Am 20. Mai 1989
saß der Sänger dann in einem Hamburger TV-Studio August Everding gegenüber, der
ihn zu seiner dacapo-Sendung eingeladen hatte. Gedda plauderte
munter über seine Sängerlaufbahn, servierte ein paar Anekdoten und sang sogar
zwei Lieder zur Klavier-begleitung: Strauss´ Zueignung und Sjöbergs Tonerna.
Er wirkte auf sehr sympathische Weise bescheiden.
Im Herbst
begannen dann an der Wiener Staatsoper die Proben zu einer Aufführungsserie von
Les Contes d´Hoffmann. Gedda wagte die komplexe Hoffmann-Partie mit 64
Jahren, weil „es hier um einen Mann geht, der das Leben gelebt hat“. Das Wiener
Publikum bejubelte ihn und beschenkte ihn mit stehenden Ovationen. Im Januar
1990 fand die letzte Vorstellung statt. Weil es anscheinend keinen adäquaten
Ersatz gab, bat man Gedda dann im Herbst und im Frühjahr 1991 noch einmal, für
einen erkrankten Kollegen als Hoffmann einzuspringen – allerdings in Stockholm.
Für die Schallplatte blieb Gedda aber weiterhin aktiv. Unter dem Dirigenten
Lawrence Foster hörte man ihn gemeinsam mit José van Dam, Brigitte Faßbender,
Marjana Lipovsek und Barbara Hendricks in der 1936 uraufgeführten Oper Oedipe
(Ödipus) von George Enescu. Die Platte wurde 1989 in Monte Carlo
produziert.
Welches Potential
er noch immer in der Stimme besaß, bewies er am 13. Dezember 1989 in London bei
einer Konzert-Aufführung von Bernsteins Candide im Barbican-Center.
Bernstein dirigierte das eigene Werk, es sangen Christa Ludwig, June Anderson
und Jerry Hadley, jener Tenor, der sich im Sommer 2007 erschoß. Gedda sang
gleich drei Partien. Die Handlung ist ziemlich bizarr, und spielt in
verschiedenen Zeitebenen. Die Vorlage lieferte der berühmte Roman von Voltairé.
Das Konzert wurde später auf Videocassette veröffentlicht. Die Stimme des
Tenors war noch immer kraftvoll, ausdrucksstark und höhensicher. Mit seiner
imposanten Darbietung verblüffte er insbesondere Jerry Hadley, der ihm staunend
und mit offenem Mund zuhörte. Nach Geddas Vortrag von >Bonvoyage<
im schwindelerregenden Staccato-Rhythmus, umarmte ihn Leonard Bernstein
und küsste ihn auf die Wange. Dieses Stück hat beispielsweise den
Schock-Zögling Volker Bengl vollkommen überfordert.
1990 absolvierte
Nicolai Gedda einige Chorkonzerte in Finnland und Russland. Das kalte Klima
dieser Länder wirkte sich allerdings nicht gut auf seine Kondition aus. Die
Internetseite YouTube datiert einen Filmausschnitt mit Gedda, der
Grecianinows >Ninna-Nanna< in Triest singt, ebenfalls auf 1990. Am
24. Januar 1991 gab er in der neuen Essener Philharmonie einen Liederabend mit
Giovanni Bria. Mit dem Alter hatte die Stimme einen reifen Ausdruck bekommen,
den ich mit den Adjektiven akademisch und schulmeisterlich
bezeichnen möchte. Das mag in den Opernrollen unpassend gewesen sein, die
köstlichen Lieder von Hugo Wolf – ZurWarnung, BeieinerTrauung, Abschied – wurden dadurch allerdings zu Moritaten. Die
deutschen TV-Zuseher konnten sich im Herbst 1991 noch einmal über einen
Auftritt Geddas in der ZDF-Show MelodienfürMillionen
freuen. Zum Playback von >Freunde, das Leben ist lebenswert< bewegte
er gewohnt asynchron seine Lippen.
Damals war der
Sänger auch nicht mehr durch Exklusivverträge an die EMI gebunden. Wie groß
sein Marktwert immer noch war, zeigen Aufnahmen die bei anderen Labeln
entstanden. Vom 20. – 22. Mai nahm er in Stockholm Strawinskys Ödipus Rex für
die SONY auf, im Januar 1992 die Schallplattenpremiere von Naumanns Gustav
Wasa für VIRGIN. Bei der DECCA entstand ebenfalls 1992 Korngolds Wunder
der Heliane. Sogar bei seinem geliebten Onjegin durfte er für
CHANDOS wieder dabei sein. Er sang jetzt natürlich nicht mehr den Lenski,
sondern gab einen hübschen Auftritt als Monseigneur Triquet.
Ein Fiasko wurde
Geddas Rückkehr auf die Opernbühne, die er eigentlich nach dem letzten Hoffmann
im Frühjahr 1991 nicht mehr betreten wollte. Die Direktion der Stockholmer Oper
überredete ihn, in der schwedischen Nationaloper Gustav Wasa die Rolle
des dänischen Königs Christiern anzunehmen. Die Figur hinter der Rolle war
ausgesprochen unsympathisch, ein richtiges Ekel. Nicolai Gedda: „Mir fiel die
Partie des jähzornigen, blutbesudelten dänischen Königs zu, der zu jener Zeit
auch über Schweden herrschte. In meiner ganzen Karriere hatte ich nie eine
solche unsympathische Rolle gespielt. Sie war meinem Charakter völlig
entgegengesetzt. Ich wollte auf keinen Fall diese am meisten gehaßte Gestalt
unserer schwedischen Geschichte verkörpern, aber von allen Seiten kamen
Überredungsversuche“. Es kam wie es kommen mußte, Gedda sagte zu. Das Werk
wurde im Stil des modernen Theaters von einem Stümper aus der deutschen Provinz
inszeniert, der die Akteure gemeinsam mit den Bühnenbildnern und Choreographen
in bunte Fahnen hüllte, und sie wie Karnevalsfiguren agieren ließ. Der Lohn war
ein großes Buh-Konzert aus den Kehlen maßlos enttäuschter Opernfans. Gedda hat
sich diese Rückkehr auf die Bühne nie verziehen. Einer revidierten, nun
konzertanten Fassung war dann allerdings mehr Erfolg vergönnt. Sie fand ihren
Weg sogar als Gastspiel im Mai 1992 bis zur Semper-Oper nach Dresden. Die
ursprüngliche Fassung wurde in Stockholm nach nur 3 Vorstellungen abgesetzt.
Übrig blieb die erwähnte Aufnahme bei VIRGIN.
Gedda spielte mit
dem Gedanken, sich aus dem modernen Theaterbetrieb zurückzuziehen. In Barcelona
und Madrid gab er aber 1992 mit seiner langjährigen Partnerin Victoria de los
Angeles vielumjubelte Konzerte. Noch im Januar 1993 standen sie wieder in Rom
auf dem Podium. Das Publikum liebte es, diese Legenden noch einmal gemeinsam zu
erleben. Im Mai kam es in London, Brighton und Glasgow zu weiteren Auftritten.
Zu einem Konzert mit russischer Musik am 27. Mai unter Rostropowitsch brauchte
Gedda nicht weit reisen. Es fand in Evian am Genfer See gegenüber von
Tolochenaz statt. Auch die Mailänder hatten Gedda noch nicht vergessen, und
luden ihn im November zu einem Konzert in die Scala ein. Die Opernsaison
startet dort traditionell am 7. Dezember. Sogar die deutschen Fernsehzuschauer
konnten ihn noch einmal sehen: In einer Ausgabe von Musik liegt in der Luft präsentierte
er das russische Volkslied >Kolokoltschik<. Der Moderator Dieter
Thomas Heck überraschte mit der Ankündigung einer neuen Gedda-CD: LiederausdemaltenRussland. Die Aufnahme war zuvor mit
einem Solisten-Ensemble unter Vladimir Ciolkovitch eingespielt worden. Wer auf
dieser CD hört, wie Gedda noch mit 68 Jahren seine Mezzavoce und die voixmixte ein-setzt, wird erstaunt sein. Die Mittellage ist vollkommen
intakt. Nicolai Gedda klingt wie ein junger Mann!
Mit Geoffrey
Parsons machte er eine weitere Platte: Nordische und russische Lieder. Später,
im November 1994, schmückte Gedda sogar die Titelseite der Zeitschrift Opernglas,
die ihm einen ganzen Artikel mit Interview widmete. Auch für die Klassik-Akzente
sprach er ein paar Worte. Im November saß er in Barcelona in der Jury des 32.
Internationalen Francisco Vinas-Gesangswettbewerb. Dem spanischen Magazin Wagneriana
gab er zwischenzeitlich ein weiteres Interview. Zu einem Skandal wurde seine
Reise nach Südafrika, die er wegen der schwedischen Anti-Apartheidhaltung
wieder absagen mußte. Die heimische Presse warf dem Sänger vor, er habe zu
geringes Gespür für die Mißstände in Südafrika bewiesen. Wer dort auftrat, galt
der UN automatisch als verdächtig. Gedda erfuhr einige scharfe Angriffe, und
sah sich in den Medien mit unangenehmen Fragen konfrontiert. „Ich mußte mich
selbst für einen politischen Idioten erklären!“.
Noch einmal, am
1. Dezember 1994, trat Gedda im deutschen Fernsehen auf. In der Lotterie-Show Die
goldene Eins hörte man von ihm das russische >Kol Slawen<. Der
Sänger sah jetzt sichtlich gealtert aus. Die Haare waren grau, die Bewegungen
langsamer geworden. Aber noch immer strahlte er Charisma und Autorität aus.
Beim obligatorischen Schlußbild nahm er spontan die mitwirkende Barbara
Hendricks in den Arm, und küsste sie sanft auf die Wange. 1994 trat die Elite
schwedischer Sänger beim Värmland Classic Festival unter Mats Liljefors
auf. Gedda war mit >Amor ti vieta< und >Entonigt klingar den
lillar klockan< zu hören. Die einzige Angabe, die ich für 1995 finden
konnte, bezieht sich auf ein Operettenkonzert in Berlin. Angeblich soll er dort
mit Anna-Maria Kaufmann aufgetreten sein. 1996 gab er wieder Konzerte in Japan,
Korea und Taiwan. Die langen Reisen und klimatischen Veränderungen zerrten an
den Körperkräften des Sängers, und bereits nach zwei Auftritten im Oktober mußte
er die Tour durch Australien mit einer schweren Stimmbandentzündung beenden.
Weitere Engagements in die USA lehnte er ab. Stattdessen kehrte er aber noch
einmal auf die Bühne der CoventGardenOpera zurück. Man
hatte Gedda mit warmen Worten gebeten, die Rolle des uralten Patriarchen Abdisu
in Pfitzners Palestrina zu übernehmen. Mit seiner Zusage wollte sich
Gedda vielleicht einen erinnerungswürdigeren Abgang verschaffen, als er es mit GustavWasa in Stockholm erlebt hatte. In seinem Buch schreibt er: „Auf diese
Weise endete meine Karriere auf der Bühne nicht so disharmonisch. Jetzt bin ich
zu alt, um neue Rollen zu lernen. Ich habe das Meine auf der Bühne geleistet“.
Im Februar gab es die letzte Palestrina-Vorstellung.
Seine
Liederabende aber wurden fortgesetzt. Schon am 21. März erlebte ihn das
Publikum in Berlin zur Pianobegleitung von Shelley Katz. Eine besondere Ehre
war anschließend das Angebot, bei der Gala zum 100jährigen Bestehen der EMI in
Glyndebourne als Conferenciér durch das Programm zu führen. Bei diesem Anlaß
trat er auch als Sänger mit dem Maxim-Lied des Danilo auf. Im Frühjahr
unternahm er gemeinsam mit Aino eine Verlobungsreise nach Rom. Die Hochzeit
vermute ich auf den Zeitraum März/April, da Gedda bei Erwähnung der Gala in
Glyndebourne am 27. April Aino Sellermark bereits als seine Frau bezeichnet.
Am 18. Dezember
1997 konnten sich die Wiener auf ein besonderes Musikereignis freuen. Zu Ehren
des 76jährigen Franco Corelli veranstaltete man im neueröffneten Austria-Center
ein Fest der Tenöre. Auf dem Programmzettel standen neben dem greisen
Recken auch José Cura, Peter Seiffert, Giacomo Aragall, Miroslav Dvorsky (den
man peinlicherweise als Peter Dvorsky ankündigte) und natürlich Nicolai Gedda.
Aragall fiel aus, und wurde durch den Russen Vladimir Galouzine ersetzt. Gedda,
jetzt mit wehenden weißen Haaren wie Albert Einstein, zeigte mit seinen
Vorträgen noch einmal, was ein kunstvoller Gesang war. Obwohl die Einsätze
ungenau und die Stütze unsicher waren, begeisterte er bei >Dein ist mein
ganzes Herz< mit einer lang gehaltenen Schlußnote. Seine Wortdiktion war
beim Sextett zu Sieczynskis >Wien, Wien, nur du allein´< nicht nur
ausgesprochen genau, seine Stimme übertönte auch den Gesang der anderen Tenöre.
Corelli, nur physisch anwesend, markierte mit geöffnetem Mund. Am Ende der Veranstaltung warf ihm Gedda
eine Kußhand zu. Corelli starb am 29 Oktober 2003 im Alter von 82 Jahren.
Gedda zog auch
1998 noch das Publikum an. Sein Berliner Liederabend am 23. Februar war
ausverkauft. Am gleichen Tag druckte die Morgenpost ein Interview mit
ihm ab, das Martina Helmig geführt hatte. Die schwedischen Fernsehzuschauer
sahen ihn am 8. April auf dem Bildschirm. Es war das Datum seines Debüts 46
Jahre zuvor. Von Auftritten im März und April in München und Berlin wird
ebenfalls berichtet. Und Anfang Juni gab es in der Pariser Bastille-Oper ein
Wiedersehen mit seinem französischen Publikum. Selbst die Wiener kamen noch in
den Genuß eines Gedda-Auftritts bei einer Freiluft-Veranstaltung im Juli. Am
16. und 18. Oktober werden zwei Kirchenkonzerte in Leipzig und Berlin genannt.
1998 erscheint auch die oft erwähnte Biographie, die Geddas Frau Aino nach
Tonbandprotokollen aufgezeichnet hat. Der Text auf dem Umschlag warnt: Diese
Autobiographie erhebt keine hochtrabenden intellektuellen Ansprüche.
Tatsächlich ist der Text äußerst einfach niedergeschrieben. Kaum zu glauben,
daß Fr. Sellermark eine namhafte Kulturjournalistin war.
Gegen Ende der
90er Jahre zog sich Gedda fast gänzlich in sein privates Refugium zurück. Nur
selten gestattete er sich noch, öffentlich in Erscheinung zu treten. Doch noch
immer be-kam er Angebote zugesand. Über seine pädagogische Arbeit und über
Meisterklassen, die er abgehalten hat, ist nur sehr wenig bekannt. Dies ist
wieder ein Bereich seines Lebens, über den er praktisch nichts berichtet hat.
Zu seinen Schülern gehörten Johannes Kalpers, Florian Mock, Belá Mavrák und der
Bariton Horst Lamack.
Der Meister
selbst kehrte zu stets ausverkauften Liederabenden ab und zu nach Wien zurück.
Am 4. Juli 1999 hörte man ihn beim Klangbogen-Festival im Theater an der Wien.
Zwei Tage darauf schrieb die Wiener Presse:
Er ist und bleibt eine lebende Legende. Nicolai Gedda
zählt wohl vor allem deshalb zu den herausragenden Erscheinungen des internationalen
Opernbusiness, weil er seine Stimme beherrscht wie kaum ein Kollege. So
souverän und dermaßen technisch sicher wie er, singt nicht bald ein einziger
Vertreter der vokalen Zunft. Natürlich applaudiert Wien schon sehr lautstark,
wenn ein verdienter Künstler wie Gedda auf dem Podium erscheint. Zu Recht aber
steigerte sich der Jubel nach dem Auftritt mit „Wo die wilde Rose erblüht“, und
– vor allem –nach „Sei mir gegrüßt, du holdes Venezia“ zur Orkanstärke, denn
Gedda ist nach wie vor ein unfehlbarer Stilist. Er versteht sich noch immer auf
seine berühmten Mischtöne, auf zauberhafte Pianissimi und – als willkommener
Gegenpol – auf kraftvolle Attacke. Juliane Banse als jugendliche Partnerin
konnte sich mit sympathischem Totaleinsatz neben dem großen alten Herrn
behaupten. Die Sopranistin war ihm eine animierte Duettpartnerin und punktete
dank ihres beachtlichen Ausdruckspotentials auch in ihren Soli. Die Camerata
Academica begleitete unter der Leitung ihres Konzertmeisters Alexander Janiczek
mit großer Spiellaune. So schloß der Jubel zuletzt wirklich alle Beteiligte aus
vollem Herzen ein.
David Lutz begleitete Nicolai Gedda am Piano bei seinem
Liederabend am 25. Mai 2000 im Brahms-Saal. Auf dem Programm standen Lieder von
Duparc, Grieg, Tschaikowsky und Rachmaninoff. Dazu schrieb Walter Weidringer
folgende Rezension:
Wer gekommen war, einen großen Alten doch noch einmal
zu hören, und ihm höflichen, mit leichtem Bedauern gewürzten Tribut zu zollen,
wurde eines Besseren belehrt. Denn Nicolai Gedda, bald 75 Jahre alt, sprengte
die Grenzen eines bloßen Alterswunders. Gewiß hört man auch bei ihm die eine
oder andere natürliche Abnützungserscheinung. Die untere Mittellage ist
intonationsmäßig schon anfällig, nicht jedes Fortissimo gelingt gleich rund.
Nur bewegen sich diese Abstriche in einem Rahmen, um den ihn mancher wesentlich
jüngerer Kollege beneiden dürfte. Auf die nicht über beanspruchte Höhe ist
nämlich nach wie vor Verlaß. Die voix mixte, jene Mischung aus Kopf- und
Brustregister, seit jeher Geddas Trumpf, liefert zaglos ätherischen Effekt. Vor
allem: Die stets noble Phrasierung kennt keinerlei stilistische Ausrutscher.
Sein nach wie vor unverkennbar keusches Timbré hat ja nie mit auftrumpfender
Virilität geprunkt – vielleicht wirkt es gerade deshalb so alterslos. Aber man
kam auch ins Grübeln, welche Seltenheit es heutzutage darstellt, daß Sänger,
Tenöre zumal, mit solcher Souveränität über ihr Material gebieten können. Mit
welchem Programm dieses Phänomen hörbar gemacht wurde, war letztlich zweitrangig.
Klug gewählt und knapp gefasst, präsentierte es die stimmlichen Möglichkeiten
des Tenors in bestmöglichem Licht. David Lutz bot Gedda dabei am Klavier die
nötige Sicherheit, überließ ihm aber bescheiden das Rampenlicht. Das Publikum
im Brahmssaal feierte Gedda schon nach jedem Programmblock ausgiebig, und
erjubelte sich vier Zugaben.
Herbert Müller fasste sich kürzer:
Nicolai Gedda, Denkmal tenoralen Kunstgesangs, erst
dieser Tage auch in Wien für seine Verdienste ausgezeichnet, setzte in seinem
Liederabend gewiß viele seiner Freunde in Erstaunen, die nicht wissen, wie alt
er ist – die Wissenden aber erst recht! Gedda sang alles auswendig. Duparc machte den Beginn
mit „L´Invitation au voyage“, und zeigte nicht nur die unverwelkliche
Pianokultur des Sängers, sondern überhaupt die Flexibilität in der Höhe und die
Kraft in der Attacke – diese übrigens verschwenderisch bis zum Schluß! David Lutz am Flügel war nicht nur ein technisch
perfekter Pianist, sonder ein wertvoller Mitgestalter.
VondiesemLiederabendkonnteichverschiedeneTonauszügehören. Sein Vortrag von >Una
furtiva lagrima< war tatsächlich von erstaunlicher Frische. Brigitte
Suchan schrieb dazu: „Diese Arie hat man in der Staatsoper schon lange nicht
mehr so gepflegt gehört!“ Ein Photo zeigt ihn im weißen Jacket mit schneeweißen
Haaren. Er hebt die Arme empor, und empfängt die Ovationen des Publikums. Es
ist ein bewegender Augenblick. Am 2. Juli 2001 gab er einen weiteren Wiener
Liederabend, diesmal in der Staatsoper. Auch hierzu möchte ich einen Pressetext
anfügen:
Heimliche Träne und lauter Jubel!Er war und bleibt ein Phänomen. An kunstvoller
Beherrschung seiner Stimmbänder kam Nicolai Gedda kaum je ein Zeitgenosse
gleich. Und noch heute, um die Mitte seiner Siebziger, gestaltet der Tenor mit
ungebrochener Meisterschaft Phrasierungskunststücke, die das Publikum zu
Begeisterungsstürmen hinreißen. Nach wie vor wechselt dieser Tenor mühelos von
der Noblesse einer Gounod-Romanze zum Singspielton Rossinis, wobei er mit einer
Einlage wie dem „Babylied“ auch kabarettistisches Talent bewies. Vor allem
jedoch fesselte die Leichtigkeit, mit der scheinbar mühelos auch weitverzweigte
Koloraturen und kompliziert gedrechselte Phrasen modeliert. Nach wie vor reicht
keiner an Gedda heran. Wer ihn so singen hört, weiß, warum diese Karriere so
lange ungebrochen verlaufen konnte.
Die Sensation
ereignete sich aber am 31. März 2001 in Kopenhagen. Auf dem Programm stand
Puccinis letzte Oper Turandot nach dem Märchenspiel von Gozzi.
Allessandra Marc sang die Turandot, Johan Botha den unbekannten Prinzen. Es
dirigierte Giuseppe Sinopoli, der kurze Zeit später plötzlich verstarb. Kaum
einer konnte glauben, wer in der Rolle des uralten Kaisers Altoum zu hören sein
würde: Nicolai Gedda! Wieder einmal brach er sein Gelübde, und kehrte auf die
Opernbühne zurück. In der zweiten Szene des zweiten Aktes end-lich setzte seine
Stimme ein: Ein schreckliches Versprechen, das einst ich gegeben, zwingt
mich auf´s Neue... Diese Aufführung konnte ich trotz meiner intensiven Recherchen
nicht als Mitschnitt lokalisieren. Aber vom 28. April – 3. Mai 2001 entstand in
London mit Gedda als Kaiser eine englisch gesungene Gesamtaufnahme. Die
Turandot wurde von der gewichtigen Jane Eaglen, der Kalaf von dem tüchtigen und
weit unterschätzten Tenor Dennis O´Neill gesungen. Das Wunder dieser Produktion
ist und bleibt Gedda. Mit 76 Jahren strahlt er vom ersten Moment an eine
unglaubliche Autorität aus. >I am the pris´ner of a gasthly promis…< singt
er zugleich mit Würde und Abscheu. Die Stimme ist gealtert und fragiler
geworden. Aber es ist noch immer der vertraute Klang seines Tenors, den man von
Gedda kennt und den man liebt. Welch großartige Rolle zum Abschluß dieser
Weltkarriere – der Kaiser in Puccinis Turandot!
Zum Abschluß? Wirklich?
Am 8. Juni 2002
treibt mich meine Neugierde in den kleinen Ort Tolochenaz am Ufer des Genfer
Sees in der französischsprachigen Schweiz. Es ist ein hübsches Dorf, das ein
wenig an den Baustil vieler Häuser in der Toscana erinnert. Am äußeren Ende
liegt das Grundstück mit dem Bauernhaus. Auf dem Türschild ist schlicht Gedda-Sellermark
zu lesen. Eine riesige Hecke umgibt das Anwesen und schützt es vor indiskreten
Blicken. Ich schreibe Gedda einen Dankesbrief für die Musik seines Lebens, und
übersende ihm einige Tage später herzliche Geburtstagsgrüße. Gedda bedankt sich
augenblicklich mit einem signierten Photo.
Wieder ein Jahr
später befindet sich der Sänger erneut in London. Er singt in einer
Platten-Aufnahme Neptuns Oberpriester in Mozarts Idomeneo. Ein Rezensent
schreibt: „His voice seeming miraculously untouched by time!“ – Seine Stimme
scheint auf wunderbare Weise von der Zeit unberührt! Im Sommer übernimmt er
die Schirmherrschaft über die Elblandfestspiele in Wittenberge. Dabei tritt er
allerdings nicht öffentlich in Erscheinung. Am 11. Juli 2005 steht sein 80.
Geburtstag im Kalender.