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Nicolai Gedda - Chronologie einer Opernkarriere von Michael Stember

 8. Vom Glück der Beständigkeit (1980-1989) Vom Zauber schöner Stimmen 


9. Ausklang (1989-2005)

Nicolai Geddas gesamte Sängerlaufbahn wurde über 5 Jahrzehnte von der Schallplatte begleitet. Sie trug seinen Ruhm auch in Länder, in denen der Sänger niemals aufgetreten war. Im Frühjahr 1989 folgte er gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Aino einer Einladung zu einigen Konzerten nach Japan. Auch hier kannte man den Schweden. Seine Gastspiele wurden bei den begeisterungsfähigen und disziplinierten Japanern ein großer Erfolg.

  Am 20. Mai 1989 saß der Sänger dann in einem Hamburger TV-Studio August Everding gegenüber, der ihn zu seiner da capo-Sendung eingeladen hatte. Gedda plauderte munter über seine Sängerlaufbahn, servierte ein paar Anekdoten und sang sogar zwei Lieder zur Klavier-begleitung: Strauss´ Zueignung und Sjöbergs Tonerna. Er wirkte auf sehr sympathische Weise bescheiden.

  Im Herbst begannen dann an der Wiener Staatsoper die Proben zu einer Aufführungsserie von Les Contes d´Hoffmann. Gedda wagte die komplexe Hoffmann-Partie mit 64 Jahren, weil „es hier um einen Mann geht, der das Leben gelebt hat“. Das Wiener Publikum bejubelte ihn und beschenkte ihn mit stehenden Ovationen. Im Januar 1990 fand die letzte Vorstellung statt. Weil es anscheinend keinen adäquaten Ersatz gab, bat man Gedda dann im Herbst und im Frühjahr 1991 noch einmal, für einen erkrankten Kollegen als Hoffmann einzuspringen – allerdings in Stockholm. Für die Schallplatte blieb Gedda aber weiterhin aktiv. Unter dem Dirigenten Lawrence Foster hörte man ihn gemeinsam mit José van Dam, Brigitte Faßbender, Marjana Lipovsek und Barbara Hendricks in der 1936 uraufgeführten Oper Oedipe (Ödipus) von George Enescu. Die Platte wurde 1989 in Monte Carlo produziert.  

  Welches Potential er noch immer in der Stimme besaß, bewies er am 13. Dezember 1989 in London bei einer Konzert-Aufführung von Bernsteins Candide im Barbican-Center. Bernstein dirigierte das eigene Werk, es sangen Christa Ludwig, June Anderson und Jerry Hadley, jener Tenor, der sich im Sommer 2007 erschoß. Gedda sang gleich drei Partien. Die Handlung ist ziemlich bizarr, und spielt in verschiedenen Zeitebenen. Die Vorlage lieferte der berühmte Roman von Voltairé. Das Konzert wurde später auf Videocassette veröffentlicht. Die Stimme des Tenors war noch immer kraftvoll, ausdrucksstark und höhensicher. Mit seiner imposanten Darbietung verblüffte er insbesondere Jerry Hadley, der ihm staunend und mit offenem Mund zuhörte. Nach Geddas Vortrag von >Bon voyage< im schwindelerregenden Staccato-Rhythmus, umarmte ihn Leonard Bernstein und küsste ihn auf die Wange. Dieses Stück hat beispielsweise den Schock-Zögling Volker Bengl vollkommen überfordert.

  1990 absolvierte Nicolai Gedda einige Chorkonzerte in Finnland und Russland. Das kalte Klima dieser Länder wirkte sich allerdings nicht gut auf seine Kondition aus. Die Internetseite YouTube datiert einen Filmausschnitt mit Gedda, der Grecianinows >Ninna-Nanna< in Triest singt, ebenfalls auf 1990. Am 24. Januar 1991 gab er in der neuen Essener Philharmonie einen Liederabend mit Giovanni Bria. Mit dem Alter hatte die Stimme einen reifen Ausdruck bekommen, den ich mit den Adjektiven akademisch und schulmeisterlich bezeichnen möchte. Das mag in den Opernrollen unpassend gewesen sein, die köstlichen Lieder von Hugo Wolf – Zur Warnung, Bei einer Trauung, Abschied – wurden dadurch allerdings zu Moritaten. Die deutschen TV-Zuseher konnten sich im Herbst 1991 noch einmal über einen Auftritt Geddas in der ZDF-Show Melodien für Millionen freuen. Zum Playback von >Freunde, das Leben ist lebenswert< bewegte er gewohnt asynchron seine Lippen.

  Damals war der Sänger auch nicht mehr durch Exklusivverträge an die EMI gebunden. Wie groß sein Marktwert immer noch war, zeigen Aufnahmen die bei anderen Labeln entstanden. Vom 20. – 22. Mai nahm er in Stockholm Strawinskys Ödipus Rex für die SONY auf, im Januar 1992 die Schallplattenpremiere von Naumanns Gustav Wasa für VIRGIN. Bei der DECCA entstand ebenfalls 1992 Korngolds Wunder der Heliane. Sogar bei seinem geliebten Onjegin durfte er für CHANDOS wieder dabei sein. Er sang jetzt natürlich nicht mehr den Lenski, sondern gab einen hübschen Auftritt als Monseigneur Triquet.

  Ein Fiasko wurde Geddas Rückkehr auf die Opernbühne, die er eigentlich nach dem letzten Hoffmann im Frühjahr 1991 nicht mehr betreten wollte. Die Direktion der Stockholmer Oper überredete ihn, in der schwedischen Nationaloper Gustav Wasa die Rolle des dänischen Königs Christiern anzunehmen. Die Figur hinter der Rolle war ausgesprochen unsympathisch, ein richtiges Ekel. Nicolai Gedda: „Mir fiel die Partie des jähzornigen, blutbesudelten dänischen Königs zu, der zu jener Zeit auch über Schweden herrschte. In meiner ganzen Karriere hatte ich nie eine solche unsympathische Rolle gespielt. Sie war meinem Charakter völlig entgegengesetzt. Ich wollte auf keinen Fall diese am meisten gehaßte Gestalt unserer schwedischen Geschichte verkörpern, aber von allen Seiten kamen Überredungsversuche“. Es kam wie es kommen mußte, Gedda sagte zu. Das Werk wurde im Stil des modernen Theaters von einem Stümper aus der deutschen Provinz inszeniert, der die Akteure gemeinsam mit den Bühnenbildnern und Choreographen in bunte Fahnen hüllte, und sie wie Karnevalsfiguren agieren ließ. Der Lohn war ein großes Buh-Konzert aus den Kehlen maßlos enttäuschter Opernfans. Gedda hat sich diese Rückkehr auf die Bühne nie verziehen. Einer revidierten, nun konzertanten Fassung war dann allerdings mehr Erfolg vergönnt. Sie fand ihren Weg sogar als Gastspiel im Mai 1992 bis zur Semper-Oper nach Dresden. Die ursprüngliche Fassung wurde in Stockholm nach nur 3 Vorstellungen abgesetzt. Übrig blieb die erwähnte Aufnahme bei VIRGIN.

  Gedda spielte mit dem Gedanken, sich aus dem modernen Theaterbetrieb zurückzuziehen. In Barcelona und Madrid gab er aber 1992 mit seiner langjährigen Partnerin Victoria de los Angeles vielumjubelte Konzerte. Noch im Januar 1993 standen sie wieder in Rom auf dem Podium. Das Publikum liebte es, diese Legenden noch einmal gemeinsam zu erleben. Im Mai kam es in London, Brighton und Glasgow zu weiteren Auftritten. Zu einem Konzert mit russischer Musik am 27. Mai unter Rostropowitsch brauchte Gedda nicht weit reisen. Es fand in Evian am Genfer See gegenüber von Tolochenaz statt. Auch die Mailänder hatten Gedda noch nicht vergessen, und luden ihn im November zu einem Konzert in die Scala ein. Die Opernsaison startet dort traditionell am 7. Dezember. Sogar die deutschen Fernsehzuschauer konnten ihn noch einmal sehen: In einer Ausgabe von Musik liegt in der Luft präsentierte er das russische Volkslied >Kolokoltschik<. Der Moderator Dieter Thomas Heck überraschte mit der Ankündigung einer neuen Gedda-CD: Lieder aus dem alten Russland. Die Aufnahme war zuvor mit einem Solisten-Ensemble unter Vladimir Ciolkovitch eingespielt worden. Wer auf dieser CD hört, wie Gedda noch mit 68 Jahren seine Mezzavoce und die voix mixte ein-setzt, wird erstaunt sein. Die Mittellage ist vollkommen intakt. Nicolai Gedda klingt wie ein junger Mann!

  Mit Geoffrey Parsons machte er eine weitere Platte: Nordische und russische Lieder. Später, im November 1994, schmückte Gedda sogar die Titelseite der Zeitschrift Opernglas, die ihm einen ganzen Artikel mit Interview widmete. Auch für die Klassik-Akzente sprach er ein paar Worte. Im November saß er in Barcelona in der Jury des 32. Internationalen Francisco Vinas-Gesangswettbewerb. Dem spanischen Magazin Wagneriana gab er zwischenzeitlich ein weiteres Interview. Zu einem Skandal wurde seine Reise nach Südafrika, die er wegen der schwedischen Anti-Apartheidhaltung wieder absagen mußte. Die heimische Presse warf dem Sänger vor, er habe zu geringes Gespür für die Mißstände in Südafrika bewiesen. Wer dort auftrat, galt der UN automatisch als verdächtig. Gedda erfuhr einige scharfe Angriffe, und sah sich in den Medien mit unangenehmen Fragen konfrontiert. „Ich mußte mich selbst für einen politischen Idioten erklären!“.

  Noch einmal, am 1. Dezember 1994, trat Gedda im deutschen Fernsehen auf. In der Lotterie-Show Die goldene Eins hörte man von ihm das russische >Kol Slawen<. Der Sänger sah jetzt sichtlich gealtert aus. Die Haare waren grau, die Bewegungen langsamer geworden. Aber noch immer strahlte er Charisma und Autorität aus. Beim obligatorischen Schlußbild nahm er spontan die mitwirkende Barbara Hendricks in den Arm, und küsste sie sanft auf die Wange. 1994 trat die Elite schwedischer Sänger beim Värmland Classic Festival unter Mats Liljefors auf. Gedda war mit >Amor ti vieta< und >Entonigt klingar den lillar klockan< zu hören. Die einzige Angabe, die ich für 1995 finden konnte, bezieht sich auf ein Operettenkonzert in Berlin. Angeblich soll er dort mit Anna-Maria Kaufmann aufgetreten sein. 1996 gab er wieder Konzerte in Japan, Korea und Taiwan. Die langen Reisen und klimatischen Veränderungen zerrten an den Körperkräften des Sängers, und bereits nach zwei Auftritten im Oktober mußte er die Tour durch Australien mit einer schweren Stimmbandentzündung beenden. Weitere Engagements in die USA lehnte er ab. Stattdessen kehrte er aber noch einmal auf die Bühne der Covent Garden Opera zurück. Man hatte Gedda mit warmen Worten gebeten, die Rolle des uralten Patriarchen Abdisu in Pfitzners Palestrina zu übernehmen. Mit seiner Zusage wollte sich Gedda vielleicht einen erinnerungswürdigeren Abgang verschaffen, als er es mit Gustav Wasa in Stockholm erlebt hatte. In seinem Buch schreibt er: „Auf diese Weise endete meine Karriere auf der Bühne nicht so disharmonisch. Jetzt bin ich zu alt, um neue Rollen zu lernen. Ich habe das Meine auf der Bühne geleistet“. Im Februar gab es die letzte Palestrina-Vorstellung.

  Seine Liederabende aber wurden fortgesetzt. Schon am 21. März erlebte ihn das Publikum in Berlin zur Pianobegleitung von Shelley Katz. Eine besondere Ehre war anschließend das Angebot, bei der Gala zum 100jährigen Bestehen der EMI in Glyndebourne als Conferenciér durch das Programm zu führen. Bei diesem Anlaß trat er auch als Sänger mit dem Maxim-Lied des Danilo auf. Im Frühjahr unternahm er gemeinsam mit Aino eine Verlobungsreise nach Rom. Die Hochzeit vermute ich auf den Zeitraum März/April, da Gedda bei Erwähnung der Gala in Glyndebourne am 27. April Aino Sellermark bereits als seine Frau bezeichnet.

  Am 18. Dezember 1997 konnten sich die Wiener auf ein besonderes Musikereignis freuen. Zu Ehren des 76jährigen Franco Corelli veranstaltete man im neueröffneten Austria-Center ein Fest der Tenöre. Auf dem Programmzettel standen neben dem greisen Recken auch José Cura, Peter Seiffert, Giacomo Aragall, Miroslav Dvorsky (den man peinlicherweise als Peter Dvorsky ankündigte) und natürlich Nicolai Gedda. Aragall fiel aus, und wurde durch den Russen Vladimir Galouzine ersetzt. Gedda, jetzt mit wehenden weißen Haaren wie Albert Einstein, zeigte mit seinen Vorträgen noch einmal, was ein kunstvoller Gesang war. Obwohl die Einsätze ungenau und die Stütze unsicher waren, begeisterte er bei >Dein ist mein ganzes Herz< mit einer lang gehaltenen Schlußnote. Seine Wortdiktion war beim Sextett zu Sieczynskis >Wien, Wien, nur du allein´< nicht nur ausgesprochen genau, seine Stimme übertönte auch den Gesang der anderen Tenöre. Corelli, nur physisch anwesend, markierte mit geöffnetem Mund.  Am Ende der Veranstaltung warf ihm Gedda eine Kußhand zu. Corelli starb am 29 Oktober 2003 im Alter von 82 Jahren.

  Gedda zog auch 1998 noch das Publikum an. Sein Berliner Liederabend am 23. Februar war ausverkauft. Am gleichen Tag druckte die Morgenpost ein Interview mit ihm ab, das Martina Helmig geführt hatte. Die schwedischen Fernsehzuschauer sahen ihn am 8. April auf dem Bildschirm. Es war das Datum seines Debüts 46 Jahre zuvor. Von Auftritten im März und April in München und Berlin wird ebenfalls berichtet. Und Anfang Juni gab es in der Pariser Bastille-Oper ein Wiedersehen mit seinem französischen Publikum. Selbst die Wiener kamen noch in den Genuß eines Gedda-Auftritts bei einer Freiluft-Veranstaltung im Juli. Am 16. und 18. Oktober werden zwei Kirchenkonzerte in Leipzig und Berlin genannt. 1998 erscheint auch die oft erwähnte Biographie, die Geddas Frau Aino nach Tonbandprotokollen aufgezeichnet hat. Der Text auf dem Umschlag warnt: Diese Autobiographie erhebt keine hochtrabenden intellektuellen Ansprüche. Tatsächlich ist der Text äußerst einfach niedergeschrieben. Kaum zu glauben, daß Fr. Sellermark eine namhafte Kulturjournalistin war.

  Gegen Ende der 90er Jahre zog sich Gedda fast gänzlich in sein privates Refugium zurück. Nur selten gestattete er sich noch, öffentlich in Erscheinung zu treten. Doch noch immer be-kam er Angebote zugesand. Über seine pädagogische Arbeit und über Meisterklassen, die er abgehalten hat, ist nur sehr wenig bekannt. Dies ist wieder ein Bereich seines Lebens, über den er praktisch nichts berichtet hat. Zu seinen Schülern gehörten Johannes Kalpers, Florian Mock, Belá Mavrák und der Bariton Horst Lamack.

  Der Meister selbst kehrte zu stets ausverkauften Liederabenden ab und zu nach Wien zurück. Am 4. Juli 1999 hörte man ihn beim Klangbogen-Festival im Theater an der Wien. Zwei Tage darauf schrieb die Wiener Presse:

Er ist und bleibt eine lebende Legende. Nicolai Gedda zählt wohl vor allem deshalb zu den herausragenden Erscheinungen des internationalen Opernbusiness, weil er seine Stimme beherrscht wie kaum ein Kollege. So souverän und dermaßen technisch sicher wie er, singt nicht bald ein einziger Vertreter der vokalen Zunft. Natürlich applaudiert Wien schon sehr lautstark, wenn ein verdienter Künstler wie Gedda auf dem Podium erscheint. Zu Recht aber steigerte sich der Jubel nach dem Auftritt mit „Wo die wilde Rose erblüht“, und – vor allem –nach „Sei mir gegrüßt, du holdes Venezia“ zur Orkanstärke, denn Gedda ist nach wie vor ein unfehlbarer Stilist. Er versteht sich noch immer auf seine berühmten Mischtöne, auf zauberhafte Pianissimi und – als willkommener Gegenpol – auf kraftvolle Attacke. Juliane Banse als jugendliche Partnerin konnte sich mit sympathischem Totaleinsatz neben dem großen alten Herrn behaupten. Die Sopranistin war ihm eine animierte Duettpartnerin und punktete dank ihres beachtlichen Ausdruckspotentials auch in ihren Soli. Die Camerata Academica begleitete unter der Leitung ihres Konzertmeisters Alexander Janiczek mit großer Spiellaune. So schloß der Jubel zuletzt wirklich alle Beteiligte aus vollem Herzen ein.

David Lutz begleitete Nicolai Gedda am Piano bei seinem Liederabend am 25. Mai 2000 im Brahms-Saal. Auf dem Programm standen Lieder von Duparc, Grieg, Tschaikowsky und Rachmaninoff. Dazu schrieb Walter Weidringer folgende Rezension:

Wer gekommen war, einen großen Alten doch noch einmal zu hören, und ihm höflichen, mit leichtem Bedauern gewürzten Tribut zu zollen, wurde eines Besseren belehrt. Denn Nicolai Gedda, bald 75 Jahre alt, sprengte die Grenzen eines bloßen Alterswunders. Gewiß hört man auch bei ihm die eine oder andere natürliche Abnützungserscheinung. Die untere Mittellage ist intonationsmäßig schon anfällig, nicht jedes Fortissimo gelingt gleich rund. Nur bewegen sich diese Abstriche in einem Rahmen, um den ihn mancher wesentlich jüngerer Kollege beneiden dürfte. Auf die nicht über beanspruchte Höhe ist nämlich nach wie vor Verlaß. Die voix mixte, jene Mischung aus Kopf- und Brustregister, seit jeher Geddas Trumpf, liefert zaglos ätherischen Effekt. Vor allem: Die stets noble Phrasierung kennt keinerlei stilistische Ausrutscher. Sein nach wie vor unverkennbar keusches Timbré hat ja nie mit auftrumpfender Virilität geprunkt – vielleicht wirkt es gerade deshalb so alterslos. Aber man kam auch ins Grübeln, welche Seltenheit es heutzutage darstellt, daß Sänger, Tenöre zumal, mit solcher Souveränität über ihr Material gebieten können. Mit welchem Programm dieses Phänomen hörbar gemacht wurde, war letztlich zweitrangig. Klug gewählt und knapp gefasst, präsentierte es die stimmlichen Möglichkeiten des Tenors in bestmöglichem Licht. David Lutz bot Gedda dabei am Klavier die nötige Sicherheit, überließ ihm aber bescheiden das Rampenlicht. Das Publikum im Brahmssaal feierte Gedda schon nach jedem Programmblock ausgiebig, und erjubelte sich vier Zugaben.

Herbert Müller fasste sich kürzer:

Nicolai Gedda, Denkmal tenoralen Kunstgesangs, erst dieser Tage auch in Wien für seine Verdienste ausgezeichnet, setzte in seinem Liederabend gewiß viele seiner Freunde in Erstaunen, die nicht wissen, wie alt er ist – die Wissenden aber erst recht!

Gedda sang alles auswendig. Duparc machte den Beginn mit „L´Invitation au voyage“, und zeigte nicht nur die unverwelkliche Pianokultur des Sängers, sondern überhaupt die Flexibilität in der Höhe und die Kraft in der Attacke – diese übrigens verschwenderisch bis zum Schluß!

David Lutz am Flügel war nicht nur ein technisch perfekter Pianist, sonder ein wertvoller Mitgestalter.

VondiesemLiederabendkonnteichverschiedeneTonauszügehören. Sein Vortrag von >Una furtiva lagrima< war tatsächlich von erstaunlicher Frische. Brigitte Suchan schrieb dazu: „Diese Arie hat man in der Staatsoper schon lange nicht mehr so gepflegt gehört!“ Ein Photo zeigt ihn im weißen Jacket mit schneeweißen Haaren. Er hebt die Arme empor, und empfängt die Ovationen des Publikums. Es ist ein bewegender Augenblick. Am 2. Juli 2001 gab er einen weiteren Wiener Liederabend, diesmal in der Staatsoper. Auch hierzu möchte ich einen Pressetext anfügen:

Heimliche Träne und lauter Jubel!

Er war und bleibt ein Phänomen. An kunstvoller Beherrschung seiner Stimmbänder kam Nicolai Gedda kaum je ein Zeitgenosse gleich. Und noch heute, um die Mitte seiner Siebziger, gestaltet der Tenor mit ungebrochener Meisterschaft Phrasierungskunststücke, die das Publikum zu Begeisterungsstürmen hinreißen. Nach wie vor wechselt dieser Tenor mühelos von der Noblesse einer Gounod-Romanze zum Singspielton Rossinis, wobei er mit einer Einlage wie dem „Babylied“ auch kabarettistisches Talent bewies. Vor allem jedoch fesselte die Leichtigkeit, mit der scheinbar mühelos auch weitverzweigte Koloraturen und kompliziert gedrechselte Phrasen modeliert. Nach wie vor reicht keiner an Gedda heran. Wer ihn so singen hört, weiß, warum diese Karriere so lange ungebrochen verlaufen konnte.

  Die Sensation ereignete sich aber am 31. März 2001 in Kopenhagen. Auf dem Programm stand Puccinis letzte Oper Turandot nach dem Märchenspiel von Gozzi. Allessandra Marc sang die Turandot, Johan Botha den unbekannten Prinzen. Es dirigierte Giuseppe Sinopoli, der kurze Zeit später plötzlich verstarb. Kaum einer konnte glauben, wer in der Rolle des uralten Kaisers Altoum zu hören sein würde: Nicolai Gedda! Wieder einmal brach er sein Gelübde, und kehrte auf die Opernbühne zurück. In der zweiten Szene des zweiten Aktes end-lich setzte seine Stimme ein: Ein schreckliches Versprechen, das einst ich gegeben, zwingt mich auf´s Neue... Diese Aufführung konnte ich trotz meiner intensiven Recherchen nicht als Mitschnitt lokalisieren. Aber vom 28. April – 3. Mai 2001 entstand in London mit Gedda als Kaiser eine englisch gesungene Gesamtaufnahme. Die Turandot wurde von der gewichtigen Jane Eaglen, der Kalaf von dem tüchtigen und weit unterschätzten Tenor Dennis O´Neill gesungen. Das Wunder dieser Produktion ist und bleibt Gedda. Mit 76 Jahren strahlt er vom ersten Moment an eine unglaubliche Autorität aus. >I am the pris´ner of a gasthly promis…< singt er zugleich mit Würde und Abscheu. Die Stimme ist gealtert und fragiler geworden. Aber es ist noch immer der vertraute Klang seines Tenors, den man von Gedda kennt und den man liebt. Welch großartige Rolle zum Abschluß dieser Weltkarriere – der Kaiser in Puccinis Turandot!

Zum Abschluß? Wirklich?

  Am 8. Juni 2002 treibt mich meine Neugierde in den kleinen Ort Tolochenaz am Ufer des Genfer Sees in der französischsprachigen Schweiz. Es ist ein hübsches Dorf, das ein wenig an den Baustil vieler Häuser in der Toscana erinnert. Am äußeren Ende liegt das Grundstück mit dem Bauernhaus. Auf dem Türschild ist schlicht Gedda-Sellermark zu lesen. Eine riesige Hecke umgibt das Anwesen und schützt es vor indiskreten Blicken. Ich schreibe Gedda einen Dankesbrief für die Musik seines Lebens, und übersende ihm einige Tage später herzliche Geburtstagsgrüße. Gedda bedankt sich augenblicklich mit einem signierten Photo.

  Wieder ein Jahr später befindet sich der Sänger erneut in London. Er singt in einer Platten-Aufnahme Neptuns Oberpriester in Mozarts Idomeneo. Ein Rezensent schreibt: „His voice seeming miraculously untouched by time!“ – Seine Stimme scheint auf wunderbare Weise von der Zeit unberührt! Im Sommer übernimmt er die Schirmherrschaft über die Elblandfestspiele in Wittenberge. Dabei tritt er allerdings nicht öffentlich in Erscheinung. Am 11. Juli 2005 steht sein 80. Geburtstag im Kalender.


 8. Vom Glück der Beständigkeit (1980-1989) Vom Zauber schöner Stimmen