Zur Startseite
Nicolai Gedda - Chronologie einer Opernkarriere von Michael Stember

 9. Ausklang (1989-2005)


Vom Zauber schöner Stimmen

The glory of the human voice“ besaß seit Urzeiten einen undefinierbaren Magnetismus, den zu ergründen sich die klügsten Geister bemühten. Das Singen ist, nach Definition, die Interpretation eines Textes mit musikalischen Tönen, die von der menschlichen Stimme her-vorgebracht werden. Wohlgemerkt, mit musikalischen Tönen! Doch ist es vornehmlich eine subjektive Empfindung, eine Stimme schön oder häßlich zu bewerten. Dem Gusto Heinrich F. Mannsteins entsprechend, lässt sich schöner, kunstvoller Gesang jedoch definieren.

Schöner Ton ist der Stoff aller Musik, und alles, was auf seine Kosten gemacht wird, wäre besser gar nicht da. Der schöne Ton muß stets vollkommen rein angegeben sein und die aus-zudrückende Leidenschaft schildern.

Dieser einfachen Forderung stehen die pragmatischen Formulierungen von Historikern und Kritikern wie John B. Stean und Henry Pleasants gegenüber. Zu den unerlässlichen Tugenden eines schönen Tons gehört auch die Beherrschung der Technik, eine Hingabe an die Kunst und eine Autorität des Stils – so Steans Forderung. Schöner Gesang wurde vor allem von den Italienern des frühen 19. Jahrhunderts verlangt. Sie nannten ihn Belcanto. Wann genau dieser Begriff zu einer Stiländerung und zu einer Wandlung auf den Opernbühnen führte, lässt sich nicht exakt datieren. Aber wir wissen, das Komponisten wie Mozart, Bellini, Rossini oder Donizetti von ihren Sängern den Wohllaut regelrecht erwarteten. Die Noten Verdis und auch Puccinis stehen vielen heutigen Hörern näher, aber sie leuteten auch das Ende der zu Beginn zitierten Glorie der menschlichen Stimme ein. Insbesondere Verdi und Wagner zwangen ihre Sänger zu einem offenen Singen, bei dem die Töne mit gepresstem Druck erzwungen wurden. Man höre sich nur die frühen Opern Verdis, und dann seine Spätwerke an. Oder man denke an das Unheil, das die Musik Richard Wagners den lyrischen Sängern bescherte.

Nun ist der Canto fiorito, also der verzierte Stil zum Ausdruck der vokalen Affektsprache, nicht unbedingt jedermanns Geschmack. Aber, er ist unbestreitbar Kunst. Und dies sogar im doppelten Sinne, wenn Kunst – wie Goethe einst so schön formulierte – von Können kommt. Diese These würde erklären, warum Menschen, denen Barockmusik oder Belcanto völlig fremd ist, mit Entzücken einer Sängerin wie Cecilia Bartoli zujubeln, der es auf einmalige, persönlichkeitsstarke Weise gelingt, diese Stilrichtung auch Neulingen der Oper schmackhaft zu machen. Es ist nur selten die Musik, die Wünsche offen lässt, es sind die Interpreten. Viele Sänger vermitteln nur ein Zerrbild großer Partituren. Nehmen wir das Kunstlied. Erst durch die Interpretationen weniger Auserwählter eröffneten sich auch mir bislang verborgene Inhalte. Das Volkslied >In Lauterbach hab´ ich meinen Strumpf verlor´n< drang nur durch den Vortrag von Maria Ivogün an meine Sinne. Friedrich Silchers >Ännchen von Tharau< stieß mich in der Interpretation von Hannes Wader ab, und berührte mich durch Fritz Wunderlich. Und wer brachte den Menschen die veristische Oper je näher als Enrico Caruso, der das Drama durch schlichte Volkstümlichkeit in höchster künstlerischer Vollendung präsentierte? Gustav Mahler sagte einmal: „Es gibt nur einen Star, nämlich das Werk des Komponisten.“ Unter dieser Prämisse dürfte es als Unart gelten, wenn sich Sänger mit vokalen Mätzchen in den Vordergrund singen, um Ruhm und Geld zu mehren.

Heute werden die großen Gagen an den Wegesrand gelegt, damit sie zur Erhaltung der kommerziellen Maschinerie von den Künstlern aufgenommen werden. Der Verfasser dieses Buches jedenfalls betrachtet es mit Abscheu, wenn neue Stimmen und Stimmchen zu Shoot-ing-Stars deklariert werden. Da singen Tenöre von Bach bis Sinatra einfach alles, da wälzt sich eine verführerische Sopranistin zu Klängen aus Dvoraks Rusalka lasziv in Designer-Robe auf dem Fußboden...

Oper kann mehr, Oper ist mehr! Der junge Pavarotti mit seiner Salve der 9 hohen C´s in La figlia del reggimento war so aufregend wie der Flug zum Mond. Nach ihm hat keiner mehr die Arie so gesungen wie er, nicht William Matteuzzi, nicht Chris Merritt, Rockwell Blake, Juan Diego Flórez, Raul Giménez und schon gar nicht Andrea Bocelli. Wer konnte je einem Carlo Bergonzi, der eine exemplarische Atemtechnik besaß, in Verdi-Partien das Wasser reichen? Welcher Tenor der letzten Jahrzehnte verfügte über die elegische, schmerzverdeckte Stimmschattierung eines Jussi Björling? Welcher Tenor klang so süß wie Gigli, so männlich-viril wie Domingo, so kultiviert wie Kraus? Es gibt auch derzeitig viele gute Stimmen, sowohl auf den Bühnen der Provinztheater wie auch in der internationalen Szene. Aber es mangelt ihnen zumeist an dem, was Franziska Martienssen-Lohmann einst in ihrem Buch Der wissende Sänger als ein Gnadengeschenk bezeichnete: „Der individuelle, unverkennbare Stimmklang, das persönliche Timbré“. Sänger wie Marcello Alvaréz, Salvatore Licitra, Rolando Villazon, Marcello Giordani oder Ramon Vargás besitzen diese spezifische Färbung nicht. Sie haben das, was die Italiener – und auch mein Vater – gerne als voce bianco, also als weiße, farblose Stimme verspotten. Hierzu noch einmal Ulrich Schreiber:

Die Stimme färben kann aber nur, will er nicht zum unfreiwilligen Komiker werden, wer über den Einschwingvorgang selber bestimmt. Während andere froh sind, einen Ton zu produzier-en (und daher kommt die Eintönigkeit der heute „führenden“ Operntenöre), ist dieser Ton für einen Sänger wie Nicolai Gedda nur ein Baustein in einem größeren Zusammenhang.

Wie alle wirklich großen Sänger, so verkörperte auch Nicolai Gedda eine eigene Klasse für sich. Seine Kultiviertheit, sein Anspruch und Hinarbeiten auf das bestmögliche Niveau, haben das Gesicht des Tenorgesangs in den letzten Jahrzehnten in einem nicht zu unterschätzenden Maße bestimmt. Wäre es falsch, zu behaupten, ohne Gedda gäbe es heute unter den Tenören noch mehr Urlatori, also Schreier, vom Kaliber eines José Cura? Als dieser 1997 gemeinsam mit Gedda in einem Konzert auf der Bühne stand, und unbeholfen vom Blatt die peinliche Darbietung einer Lehár-Arie bot, da hätte er nur dem mehr als 30 Jahre älteren Tenor zuhören müssen, um zu erleben, wo der Unterschied zwischen Gesang und Gebrüll zu finden ist.

Das Musiktheater des 21. Jahrhunderts hat sich verändert. Zu allen Zeiten spiegelte die Musik ein Abbild jener historischen Epoche wider, in der sie komponiert wurde. Die Kunst-form der Oper entstand, als William Shakespeare ein junger Mann war, gegen Ende des 16. Jahrhunderts. Durch die Rebellion der Florentiner Freundschaft, einer Gruppe adeliger Komponisten, entstand aus der zunehmend komplexeren, vielstimmigen Polyphonie, der Operngesang, die Monodie. Wie Hans Schnoor in seiner Kleinen Geschichte der Musik schreibt, konnte sich die kirchliche Polyphonie von den Ereignissen des Jahres 1594, in dem Jacobo Peris Dafne aufgeführt wurde, nie mehr erholen. Die Oper verwandelte die Welt der Tonkunst für alle Zeiten. Mit ihr wurde auch ein neuer Typus von Sänger verlangt, der sich erst langsam entwickelte. Im Laufe der Jahrhunderte wurden Monteverdi, Lully, Rameau, Händel, Gluck, Mozart und die Belcantisten zu Reformatoren. Wenn man in Betracht zieht, daß Nicolai Gedda von jedem dieser Komponisten Musik interpretierte, dann kann man auch verstehen, warum der Schwede einst als Die Stimme der Musik bezeichnet wurde. Man stelle sich einen solchen universellen Künstler einmal im modernen Opernbetrieb vor! Da es kaum noch Intendanten, Regisseure, Bühnenbilder und Sänger gibt, die mit Martienssen-Lohmanns Wort wissend sind, wird das zeitgeschichtliche Kulturgut auf eine andere, bequemere Ebene gesetzt. Die Handlung historischer Opern wird in die Gegenwart verlegt, die Werkintention wird vernachlässigt, und damit aufgegeben. Virtuose gesangliche Kunstgriffe wie Koloraturen und Verzierungen werden wie in einem Panoptikum exerziert. Der innere Sinn der Musik bleibt dabei auf der Strecke. Welche heutige Sopranistin vermag es noch, ihrem Canto fiorito den Ausdruck von Schmerz und Leid beizufügen? Welcher heutige Opernsänger versteht es, seine Stimme emphatisch oder elegisch zu färben, ohne die Akzentuierung des Ausdrucks zu forcieren? Ein überaus talentierter Sänger wie Juan Diego Flórez verlässt bei keiner Arie den natürlichen Grundton seiner Stimme, und singt dadurch das Lamento des Orphée gleichklingend wie des Herzogs Spottlied >La Donna é mobile<. Dieses Defizit lässt sich auch bei dem vielversprechenden Maltesen Joseph Calleja feststellen.

Wie anders war doch Gedda! Er sang Gluck und Rameau mit stilistischem Einfühlungsver-mögen, Mozart mit Noblesse, Donizetti und Bellini mit verhaltenem Wohlklang, und schließ-lich die lyrischen Partien Verdis und Puccinis mit kontrollierter Expressivität. Als Operetten-sänger wurde er nur von den Spezialisten dieser Zunft erreicht. Schon als junger Mann wußte Gedda sehr wohl zu differenzieren. Als ihm Karajan und Legge den Bachus in Ariadne auf Naxos anboten, wählte er eine andere, viel unlukrativere Verpflichtung.

Gedda hat auf der Schallplatte einige der brillantesten Demonstrationen vokaler Kunst ver-ewigt. Er hat mit seiner unermüdlichen Bereitschaft, das Werk des Komponisten nicht nur zu singen, sondern es auch ernst zu nehmen, Vorbildfunktion ausgeübt. Es bleibt zukünftigen Tenorgenerationen überlassen, auf den Schweden Bezug zu nehmen. Wer sich allerdings nicht alleine auf simple Ausdrucksgesten, schmachtende Blicke von der Bühne hinunter, und allzu machohafter Gebärden verlassen will, der muß Gedda studieren. Der muß begreifen, daß sich der Schlüssel zu einer langanhaltenden Sängerkarriere jenseits der Titelbilder von Hochglanz-magazinen findet. Nur so ist es uns, den Zuhörern, möglich, auch morgen noch dem Zauber einer schönen Stimme zu erliegen.


 9. Ausklang (1989-2005)