„The
glory of the human voice“ besaß seit Urzeiten einen undefinierbaren
Magnetismus, den zu ergründen sich die klügsten Geister bemühten. Das Singen
ist, nach Definition, die Interpretation eines Textes mit musikalischen Tönen,
die von der menschlichen Stimme her-vorgebracht werden. Wohlgemerkt, mit musikalischen
Tönen! Doch ist es vornehmlich eine subjektive Empfindung, eine Stimme schön
oder häßlich zu bewerten. Dem Gusto Heinrich F. Mannsteins entsprechend,
lässt sich schöner, kunstvoller Gesang jedoch definieren.
Schöner Ton ist der Stoff
aller Musik, und alles, was auf seine Kosten gemacht wird, wäre besser gar
nicht da. Der schöne Ton muß stets vollkommen rein angegeben sein und die
aus-zudrückende Leidenschaft schildern.
Dieser einfachen Forderung stehen
die pragmatischen Formulierungen von Historikern und Kritikern wie John B.
Stean und Henry Pleasants gegenüber. Zu den unerlässlichen Tugenden eines
schönen Tons gehört auch die Beherrschung der Technik, eine Hingabe an die
Kunst und eine Autorität des Stils – so Steans Forderung. SchönerGesang
wurde vor allem von den Italienern des frühen 19. Jahrhunderts verlangt. Sie
nannten ihn Belcanto. Wann genau dieser Begriff zu einer Stiländerung
und zu einer Wandlung auf den Opernbühnen führte, lässt sich nicht exakt
datieren. Aber wir wissen, das Komponisten wie Mozart, Bellini, Rossini oder
Donizetti von ihren Sängern den Wohllaut regelrecht erwarteten. Die
Noten Verdis und auch Puccinis stehen vielen heutigen Hörern näher, aber sie
leuteten auch das Ende der zu Beginn zitierten Glorie der menschlichen
Stimme ein. Insbesondere Verdi und Wagner zwangen ihre Sänger zu einem
offenen Singen, bei dem die Töne mit gepresstem Druck erzwungen wurden. Man
höre sich nur die frühen Opern Verdis, und dann seine Spätwerke an. Oder man
denke an das Unheil, das die Musik Richard Wagners den lyrischen Sängern
bescherte.
Nun ist der Cantofiorito, also der verzierte Stil zum
Ausdruck der vokalen Affektsprache, nicht unbedingt jedermanns Geschmack. Aber,
er ist unbestreitbar Kunst. Und dies sogar im doppelten Sinne, wenn Kunst
– wie Goethe einst so schön formulierte – von Können kommt. Diese These
würde erklären, warum Menschen, denen Barockmusik oder Belcanto völlig fremd
ist, mit Entzücken einer Sängerin wie Cecilia Bartoli zujubeln, der es auf
einmalige, persönlichkeitsstarke Weise gelingt, diese Stilrichtung auch
Neulingen der Oper schmackhaft zu machen. Es ist nur selten die Musik, die
Wünsche offen lässt, es sind die Interpreten. Viele Sänger vermitteln nur ein
Zerrbild großer Partituren. Nehmen wir das Kunstlied. Erst durch die
Interpretationen weniger Auserwählter eröffneten sich auch mir bislang
verborgene Inhalte. Das Volkslied >In Lauterbach hab´ ich meinen Strumpf
verlor´n< drang nur durch den Vortrag von Maria Ivogün an meine Sinne.
Friedrich Silchers >ÄnnchenvonTharau< stieß mich
in der Interpretation von Hannes Wader ab, und berührte mich durch Fritz
Wunderlich. Und wer brachte den Menschen die veristische Oper je näher als
Enrico Caruso, der das Drama durch schlichte Volkstümlichkeit in höchster
künstlerischer Vollendung präsentierte? Gustav Mahler sagte einmal: „Es gibt
nur einen Star, nämlich das Werk des Komponisten.“ Unter dieser Prämisse dürfte
es als Unart gelten, wenn sich Sänger mit vokalen Mätzchen in den Vordergrund
singen, um Ruhm und Geld zu mehren.
Heute werden die großen Gagen an den Wegesrand gelegt, damit sie zur
Erhaltung der kommerziellen Maschinerie von den Künstlern aufgenommen werden.
Der Verfasser dieses Buches jedenfalls betrachtet es mit Abscheu, wenn neue
Stimmen und Stimmchen zu Shoot-ing-Stars deklariert
werden. Da singen Tenöre von Bach bis Sinatra einfach alles, da wälzt sich eine
verführerische Sopranistin zu Klängen aus Dvoraks Rusalka lasziv in
Designer-Robe auf dem Fußboden...
Oper kann mehr, Oper ist mehr! Der junge Pavarotti mit seiner
Salve der 9 hohen C´s in Lafigliadelreggimento war
so aufregend wie der Flug zum Mond. Nach ihm hat keiner mehr die Arie so
gesungen wie er, nicht William Matteuzzi, nicht Chris Merritt, Rockwell Blake,
Juan Diego Flórez, Raul Giménez und schon gar nicht Andrea Bocelli. Wer konnte
je einem Carlo Bergonzi, der eine exemplarische Atemtechnik besaß, in
Verdi-Partien das Wasser reichen? Welcher Tenor der letzten Jahrzehnte verfügte
über die elegische, schmerzverdeckte Stimmschattierung eines Jussi Björling?
Welcher Tenor klang so süß wie Gigli, so männlich-viril wie Domingo, so
kultiviert wie Kraus? Es gibt auch derzeitig viele gute Stimmen, sowohl auf den
Bühnen der Provinztheater wie auch in der internationalen Szene. Aber es
mangelt ihnen zumeist an dem, was Franziska Martienssen-Lohmann einst in ihrem
Buch DerwissendeSänger als ein Gnadengeschenk
bezeichnete: „Der individuelle, unverkennbare Stimmklang, das persönliche
Timbré“. Sänger wie Marcello Alvaréz, Salvatore Licitra, Rolando Villazon,
Marcello Giordani oder Ramon Vargás besitzen diese spezifische Färbung nicht.
Sie haben das, was die Italiener – und auch mein Vater – gerne als vocebianco,
also als weiße, farblose Stimme verspotten. Hierzu noch einmal
Ulrich Schreiber:
Die Stimme färben kann aber nur, will er nicht zum
unfreiwilligen Komiker werden, wer über den Einschwingvorgang selber bestimmt.
Während andere froh sind, einen Ton zu produzier-en (und daher kommt die
Eintönigkeit der heute „führenden“ Operntenöre), ist dieser Ton für einen
Sänger wie Nicolai Gedda nur ein Baustein in einem größeren Zusammenhang.
Wie alle wirklich großen Sänger, so verkörperte auch Nicolai Gedda eine
eigene Klasse für sich. Seine Kultiviertheit, sein Anspruch und Hinarbeiten auf
das bestmögliche Niveau, haben das Gesicht des Tenorgesangs in den letzten
Jahrzehnten in einem nicht zu unterschätzenden Maße bestimmt. Wäre es falsch,
zu behaupten, ohne Gedda gäbe es heute unter den Tenören noch mehr Urlatori,
also Schreier, vom Kaliber eines José Cura? Als dieser 1997 gemeinsam
mit Gedda in einem Konzert auf der Bühne stand, und unbeholfen vom Blatt die
peinliche Darbietung einer Lehár-Arie bot, da hätte er nur dem mehr als 30
Jahre älteren Tenor zuhören müssen, um zu erleben, wo der Unterschied zwischen Gesang
und Gebrüll zu finden ist.
Das Musiktheater des 21. Jahrhunderts hat sich verändert. Zu allen
Zeiten spiegelte die Musik ein Abbild jener historischen Epoche wider, in der
sie komponiert wurde. Die Kunst-form der Oper entstand, als William Shakespeare
ein junger Mann war, gegen Ende des 16. Jahrhunderts. Durch die Rebellion der
Florentiner Freundschaft, einer Gruppe adeliger Komponisten, entstand aus der zunehmend
komplexeren, vielstimmigen Polyphonie, der Operngesang, die Monodie.
Wie Hans Schnoor in seiner KleinenGeschichtederMusik
schreibt, konnte sich die kirchliche Polyphonie von den Ereignissen des
Jahres 1594, in dem Jacobo Peris Dafne aufgeführt wurde, nie mehr
erholen. Die Oper verwandelte die Welt der Tonkunst für alle Zeiten. Mit ihr
wurde auch ein neuer Typus von Sänger verlangt, der sich erst langsam
entwickelte. Im Laufe der Jahrhunderte wurden Monteverdi, Lully, Rameau,
Händel, Gluck, Mozart und die Belcantisten zu Reformatoren. Wenn man in
Betracht zieht, daß Nicolai Gedda von jedem dieser Komponisten Musik
interpretierte, dann kann man auch verstehen, warum der Schwede einst als DieStimmederMusik bezeichnet wurde. Man stelle sich einen
solchen universellen Künstler einmal im modernen Opernbetrieb vor! Da es kaum
noch Intendanten, Regisseure, Bühnenbilder und Sänger gibt, die mit
Martienssen-Lohmanns Wort wissend sind, wird das zeitgeschichtliche
Kulturgut auf eine andere, bequemere Ebene gesetzt. Die Handlung historischer
Opern wird in die Gegenwart verlegt, die Werkintention wird vernachlässigt, und
damit aufgegeben. Virtuose gesangliche Kunstgriffe wie Koloraturen und
Verzierungen werden wie in einem Panoptikum exerziert. Der innere Sinn der
Musik bleibt dabei auf der Strecke. Welche heutige Sopranistin vermag es noch,
ihrem Cantofiorito den Ausdruck von Schmerz und Leid beizufügen?
Welcher heutige Opernsänger versteht es, seine Stimme emphatisch oder elegisch
zu färben, ohne die Akzentuierung des Ausdrucks zu forcieren? Ein überaus
talentierter Sänger wie Juan Diego Flórez verlässt bei keiner Arie den
natürlichen Grundton seiner Stimme, und singt dadurch das Lamento des Orphée
gleichklingend wie des Herzogs Spottlied >La Donna é mobile<. Dieses
Defizit lässt sich auch bei dem vielversprechenden Maltesen Joseph Calleja
feststellen.
Wie anders war doch Gedda! Er sang Gluck und Rameau mit stilistischem
Einfühlungsver-mögen, Mozart mit Noblesse, Donizetti und Bellini mit
verhaltenem Wohlklang, und schließ-lich die lyrischen Partien Verdis und
Puccinis mit kontrollierter Expressivität. Als Operetten-sänger wurde er nur
von den Spezialisten dieser Zunft erreicht. Schon als junger Mann wußte Gedda
sehr wohl zu differenzieren. Als ihm Karajan und Legge den Bachus in AriadneaufNaxos anboten, wählte er eine andere, viel unlukrativere
Verpflichtung.
Gedda hat auf der Schallplatte einige der brillantesten Demonstrationen
vokaler Kunst ver-ewigt. Er hat mit seiner unermüdlichen Bereitschaft, das Werk
des Komponisten nicht nur zu singen, sondern es auch ernst zu nehmen,
Vorbildfunktion ausgeübt. Es bleibt zukünftigen Tenorgenerationen überlassen,
auf den Schweden Bezug zu nehmen. Wer sich allerdings nicht alleine auf simple
Ausdrucksgesten, schmachtende Blicke von der Bühne hinunter, und allzu
machohafter Gebärden verlassen will, der muß Gedda studieren. Der muß
begreifen, daß sich der Schlüssel zu einer langanhaltenden Sängerkarriere
jenseits der Titelbilder von Hochglanz-magazinen findet. Nur so ist es uns, den
Zuhörern, möglich, auch morgen noch dem Zauber einer schönen Stimme zu
erliegen.