Weil Nicolai Gedda, der große schwedische
Tenor, alles gesungen hat, was es zu singen gab, wurde er zur Stimme der Musik,
zu einem Sänger, der sich unbeirrbar für Komponisten und deren Musik einsetzte.
So oder ähnlich leitete man zu Beginn der 80er Jahre immer wieder
diverse Versuche ein, in Aufsätzen, Essays und Kritiken dem Phänomen des
Sängers gerecht zu werden, der auch mit 55 Jahren noch neue, komplexe Partien
einstudierte. Sein geliebter Lenski in Onjegin führte ihn noch nach
Toronto, zum Maggio Musicale in Florenz und zu Gastspielen ans Moskauer
Bolschoi-Theater. In Miami sang er am 18. Januar 1980 unter Antonio de Almeida
den Hoffmann in der ersten Ausgabe der Oeser Fassung von Les Contes
d´Hoffmann. In der CarnegieHall
sah man ihn in der Konzertfassung von Massenets Herodiade mit Juan
Pons unter Eve Queler. Unermüdlich spielte er mit Jan Eyron einen Zyklus
skandinawischer Lieder ein. Und den Silvesterabend 1980 verbrachte er als
Nemorino in L´elisir d´amore auf der Bühne der Londoner CoventGardenOpera. Das alles in einem Alter, in dem manchen Tenören nicht einmal die
Reste einer Stimme geblieben sind.
Geddas Stimme konservierte sich bis ins Alter infolge der klugen
Architektur seiner Lauf-bahn. Heute gibt es nur wenige Tenöre, die diesem
Vorbild folgen. So mischt beispielsweise Marcello Alvarez auf seiner
Rezitalplatte Belcanto und Verismo, die Musik zweier
Jahrhunderte. Er serviert neben >A te o cara< aus I puritani auch
die obligatorischen Arien von Puccini – leider zu beiden Seiten in makelhaften
Versionen. Sänger wie Joseph Calleja oder Juan Diego Floréz bleiben
glücklicherweise innerhalb ihrer Grenzen. Calleja singt den Herzog so
kultiviert wie zuletzt nur Alfredo Kraus. Und Floréz´ Ruhm gründet aus seiner
Hingabe für Rossini und Donizetti. Ist es falsch, zu behaupten, sie alle wurden
von Nicolai Gedda beeinflußt? Heute werden Sänger wie Anna Netrebko eindeutig
zu früh in die große internationale Karriere entlassen. Wie wichtig es ist, das
Repertoire den eigenen stimmlichen Mitteln anzupassen (und nicht umgekehrt),
haben die Beispiele der Sänger gezeigt, die plötzlich wieder verschwanden, weil
sie Rollen sangen, die schwerer als ihre Stimmen waren: Sylvia Sass, Rosalind
Plowright, Peter Dvorsky oder Salvatore Fisichella - um nur einige zu nennen.
Nicolai Gedda hat sie alle überdauert. Gedda übte immer Selbstdisziplin, und
lehnte viele Angebote einfach ab. „Und Sie können sicher sein, daß man Gedda
mit seinen Sprach-kenntnissen und seiner fast grenzenlosen Tessitura
praktisch alles angeboten hat“, sagte die Korrepetitorin Janine Reiss.
In Monte Carlo wirkte er 1981 bei der Aufnahme zu Reynald Hahns Ciboulette
mit. Das Werk ist nahezu unbekannt und wird in keinem deutschen Musiklexikon
erwähnt. Dazu Gedda: „Es ist eine leichte, aber feine Musik, und gar nicht
leicht zu singen. Es ist ein wenig wie Offenbach, nur aus den zwanziger Jahren
des 20. Jahrhunderts“. Seinen Liederzyklus mit Jan Eyron setzte er vom 16. –
17. Juni mit der Aufnahme Lieder großer
Opernkomponisten fort. Dieses Programm präsentierte er noch bei einem
Liederabend 2001 in Wien.
Das Schwere ist, beim Liedgesang Farben zu bekommen, die
richtigen Emotionen, nicht zu wenig, nicht zu viel. Daran muß man jahrelang
arbeiten. Jahrzehntelang!
Als junger Liedsänger habe ich
zuerst immer zu viel machen wollen. Als mir dann jemand sagte, das sei Oper,
habe ich Angst bekommen vor der Übertreibung. Ich nahm mich zurück! Die Grenze
zwischen dem, was man darf und was nicht, ist ja ganz schmal. Das ist so
schwer, da muß man künstlerisch reifer werden. Ich sage den Jungen immer: „Du
brauchst 20 Jahre, um deine Gesangstechnik wirklich zu meistern. Und dann sind
es noch 30 Jahre, um auch künstlerisch zu reifen...“. Dann aber ist es mit der
Stimme vorbei. Sehen Sie, so schwer ist das!
Im Sommer 1981 wurde auch aus dem
Festspielhaus in Villach eine Weltreise in Belcanto im Radio übertragen.
Die Budapester Philharmoniker unter Ernst Märzendorfer begleiteten Gedda bei
Arien von Mozart, Donizetti, Meyerbeer, Tchaikowsky, Massenet, Puccini, Verdi
und Lehár. Der Tenor beantwortete dem Conferéncier Marcel Prawy in den Pausen
brav die üblichen Fragen nach seiner Karriere und seiner Sprachbegabung.
Die Fernsehzuschauer erlebten Gedda 1981 auch in einer albernen
Personality-Show mit Edda Moser, die vom ZDF gesendet wurde. Gemeinsam
bewältigte man die Playbacks zu Szenen aus Margarethe, Ein Walzertraum und
Die lustige Witwe. Weitere Mitwirkende waren der Kabarettist Georg
Kreisler und Erich Kunz mit einem peinlichen Auftritt als greiser Papa-geno.
Mit der Schlagzeile „Meine erste Ehe scheiterte, weil ich viel zu jung
geheiratet habe“ fand Gedda im gleichen Jahr sogar den Weg in die
Regenbogenpresse. Eine Reporterin der Neuen Post besuchte den Sänger und
seine Familie in der Schweiz. Die veröffentlichten Photos zeigen Gedda, seine
Gattin Anastasia mit ihrer Mutter Mary und den 5jährigen Sohn Dimitri. In
pathetischen Worten wurde Geddas Leben skizziert, und die Geburt Dimitris als
Krönung des gemeinsamen Glücks gepriesen. „In Anastasia fand ich die Frau fürs
Leben“ soll Gedda gesagt haben. In seinen Memoiren liest sich das aber ganz
anders: „Ich war unklug genug, noch einmal überstürzt eine Ehe einzugehen.
Aufgrund der sehr belastenden Meinungsver-schiedenheiten in meiner Ehe, die
ständig mit Zank und Streit einhergingen, hatte ich psychisch und physisch zu
leiden“. Im Frühjahr 1984 leitete Gedda die Trennung von seiner zweiten Ehefrau
ein.
1982 begann Gedda, seine Auftritte zu reduzieren. Er dezimierte die
Anzahl um die Hälfte. Die Oper trat langsam in den Hintergrund, aber Ausnahmen
bestätigten wieder die Regel. In Washington war er der Star einer konzertanten
Darbietung von Peter Tschaikowskys Iolanta (Jolanthe.) Die Titelrolle sang Galina Wischnewskaja, es
dirigierte Mstislaw Rostropowitsch. Unter den Mitwirkenden befand sich auch
Geddas Tochter Tania.Im Februar gab er mit dem Chor der russischen
Gedächtniskirche ein Benefiz-Konzert in Leipzig. Am 15. Februar 1982 sang er in
der Düsseldorfer Tonhalle einen Liederabend, der von Ulrich Schreiber in der HiFi-Stereophonie
rezensiert wurde:
„Er sang, entsetzlich begleitet von Jan Eyron, in der ersten
Hälfte Hugo-Wolf-Lieder nach Mörike, Eichendorff und Goethe. Ein gemischtes
Programm, trotz der Fixierung auf einen Komponisten. Aber auch ein tückisches
Programm! Spätestens beim vierten Lied >Verschwiegene Liebe< gingen mir
die Ohren sozusagen über, und ich fragte mich: Gibt es das überhaupt noch? Ein
Tenor, der im ganzen Lied nicht einen reinen Brustton einsetzt, sondern
zwischen Kopftimbré und voix mixte wechselt“.
Ähnlich die Worte Peter G. Davis
über eine Konzert-Iolanta im April 1982:
„Eben da es scheint, daß seine
Karriere zu Ende geht, kehrt Gedda zurück und verblüfft uns alle mit einer
neuerlichen Demonstration hinreißender Vokalkunst. Das einschmeichelnd weiche
Timbré seiner Stimme, die exquisit modulierten Mezzavoce-Effekte, die
aristokratische Eleganz der Phrasierung – all das ist noch immer vorhanden!“.
In meiner Sammlung befindet sich auch der Mitschnitt eines Konzerts vom
19. Juni in Wien. Jan Eyron begleitete ihn erneut bei den Liedern großer
Opernkomponisten. Tatsächlich klang die Stimme damals live überzeugender
als auf den Schallplatten jener Zeit. Gedda setzte jetzt viel auf den Effekt und
auf die artistischen Klangmodulationen, die das Publikum erwartete. Hört man
ihn aber unter Serge Baudo in der Aufnahme von Alceste mit Jessye Norman
und Bernd Weikl, dann werden Defezite schnell vernehmbar. Ebenso wie in
Roussels Padmavati (Mit Marilyn Horne, José van Dam, Laurence Dale unter
Michel Plasson) können die Grenzen der gealterten Stimme nicht mehr überhörbar
gemacht werden. Die Höhe, die Mittellage, die Stütze – all dies war wirklich
noch vorhanden, aber der Glanz war verloren.
Am 12. Dezember 1982 ehrte die Met Gedda anlässlich seiner
25-jährigen Zugehörigkeit mit einer Gala-Matinée. Er sang, begleitet von James
Levine am Piano, einige artistische Lieder von Bizet, Glinka und Tschaikowsky
und mit seiner Wunschpartnerin Frederica von Stade die Abschiedsszene aus Werther
und das alberne Katzenduett von Rossini. Frank Taplin von der Met-Association
hielt auf der Bühne eine Laudatio für den Tenor.
Den Aufenthalt in Monte Carlo nutze Gedda im Juni 1983 zur Aufnahme des
1. Teils von Aubers Frau Diavolo, einer köstlichen Opera-comique im
lyrischen Stil. Wie Gedda mit 58 Jahren Diavolos große Szene zu Beginn des
dritten Aktes sang, das war schon ein Kabinettstückchen. Sie beginnt mit dem
Rezitativ >J´ai revu nos amis<, und steigert sich dann in der Arie
>J´ai vois marcher sous ma bannière< zu einem heiklen
Deklamationsvortrag, der die gesamte Palette stimmlicher Akrobatik in Anspruch
nimmt. Bei der amüsierten Schilderung seiner Raubzüge imitiert Diavolo auch das
ängstliche Flehen eines kleinen Mädchens. Wie Gedda hier die Phrase >Gráce,
Monseigneur le brigand, je ne suis qu ´un pauvre enfant< mit der
Mischung aus Brust- und Kopfstimme singt, und bei der Reprise auf pauvre
die voixmixte einsetzt,
muß man einfach erlebt haben. Hört man diese Szene zum Vergleich mit Hans Hopf
oder Rudolf Schock, dann wird klar, warum Gedda oft als perfekter Stilist
bezeichnet wurde. Auch in seiner letzten Operetten-Gesamtaufnahme, Giuditta,
gleicht er Unebenheiten mit Stil und technischer Raffinesse wieder aus. Der erste
Teil der Sitzungen fand vom 7. – 10. Juni in München statt. Edda Moser war die
betörende, untreue Giuditta. Das Münchener Rundfunkorchester wurde von
Boskovsky geleitet. Die Stimme des Sängers war nun erheblich schwerer geworden,
besaß jetzt mehr Resonanz und Volumen, ohne aber die tenorale Höhe einzubüßen.
Der Tenor wußte geschickt seine Höhepunkte zu setzen. Wie sehr er seinen
Kollegen damals noch immer überlegen war, zeigte er eindrucksvoll am 23.
Oktober 1983 bei der Gala zum 100jährigen Jubiläum der MetropolitanOpera.
Er sang >Una furtiva lagrima< aus Donizettis L´elisir d´amore
gänzlich in der Mezzavoce und mit einer sicheren Schlußkadenz. Der Dirigent des
Abends, James Levine, warf dem Tenor danach einen vielsagenden, bewundernden
Blick zu. Erschreckend war allerdings Geddas Aussehen. Er hatte Übergewicht,
wirkte bedrückt, krank und müde. Den stürmischen Applaus nahm er ohne Regung
zur Kenntnis. Es ist anzunehmen, daß er an diesem Abend wieder einmal einen
großen Konflikt mit Anastasia ausgetragen hatte. In seinem Buch gibt es
eindeutige Hinweise auf einen Disput. Kurz darauf, am 11. November 1983,
verabschiedete sich Gedda vom Publikum der Met mit seiner fünften und
letzten Vorstellung von La Traviata an der Seite Kiri te Kanawas. Sein
Gesundheitszustand hatte sich drastisch verschlechtert, sein Blutdruck war
lebenbedrohlich gestiegen. Nach der Scheidung von Anastasia machte die Genesung
nur langsam Fortschritte.
Nach meiner persönlichen Überzeugung ist die Ehe an dem Verhältnis zu
Aino Sellermark gescheitert, das Gedda viele Jahre vor seiner Frau verbergen
konnte. In seinem Buch spricht Gedda von einer „verherenden Ehe in New York“.
Das legt die Vermutung einer oftmaligen Trennung nahe. Aino Sellermark kam
genau wie Gedda aus Schweden. Sie verstand sein introperspektives Wesen besser,
als es die nach Schauwerten orientierte Anastasia je konnte. Gedda war immer
ein einfacher, bescheidener Mensch. Er sehnte sich nach Ruhe, Gemütlichkeit und
häuslichem Frieden. Anastasia war das Gegenteil. Gedda verabscheute Prahlerei
und jede Art von oberflächlichen Konversationen, wie sie auf Partys und
Empfängen unvermeidbar waren. Seine Frau zeigte sich gerne im Rampenlicht. In
seinem Buch macht Gedda die Andeutung, seine Frau habe Statussymbole für einen
Opernstar als notwendig angesehen. Vielleicht war der gemeinsame Sohn nur der
späte Versuch, die Ehe noch zu retten.
Gegen Ende Oktober 1983 sah man Gedda noch einmal gemeinsam mit der
Rothenberger im deutschen Fernsehen. Aus Anlass des 30. Todestages von Emmerich
Kálmán zeigte das ZDF eine bunte Showrevue mit den bekanntesten Melodien. Gedda
und Rothenberger waren in einem Medley aus Gräfin Mariza zu erleben.
Vermutlich handelte es sich hierbei um eine im Frühjahr produzierte
Aufzeichnung, denn der Sänger machte einen sehr vitalen Eindruck.
Völlig verändert trat er aber im März 1984 vor das Publikum im Wiener
Vereinssaal. Mit Tamara Lund präsentierte er unter dem Motto Frühling in
Wien einen Strauß beliebter Melodien. Gedda sah müde aus, scheinbar um
Jahre gealtert. Er stolperte auf die Bühne, der Dirigent Heinz Wallberg fing
ihn auf. Die Arien aus Giuditta und Paganini wurden von
stimmungsvollen Ballettszenen gnädig überblendet. Das Duett aus Paganini sang
Gedda wie geistesabwesend. Die schwere Zeit, die nun hinter ihm lag, war ihm
anzusehen. Zudem war im Januar die Ziehmutter Geddas, seine Tante Olga,
verstorben. Nähere Angaben finden sich in seinen Memoiren.
Am 22. März 1984 soll Gedda gemeinsam mit seiner Tochter Tania in
Mailand in Kalmans Csardasfürstin aufgetreten sein. Auch diese
unwahrscheinliche Angabe ließ sich nicht näher überprüfen. Tatsache ist aber
ein Liederabend am 10. April in Livorno mit Pieralba Soroga am Flügel. Mit Jan
Eyron spielte er weitere Lieder ein, diesmal von Rangström. Diese Platten sind
bei der schwedischen Firma BLUEBELL
erschienen. Am 13. Juni 1984 beendete er schließlich die Aufnahmen zu Aubers Frau
Diavolo in Monte Carlo. Ohne weitere Angaben wird auch noch ein Konzert auf
Video angeboten, das die Firma BelCanto-Society unter dem Titel Nicolai
Gedda in Moskau ebenfalls auf 1984 datiert. Gedda singt russische Arien und
Lieder mit Chor- und Klavierbegleitung.
Am 21. Juni 1984 feierte eine illustre Schar großer Opernsänger in der
Wiener Staatsoper den 65. Geburtstag George Londons, der sich 1977 nach
schwerer Krankheit von der Bühne zurückzog. Neben Lucia Popp, Tatiana Troyanos,
Edita Gruberova, Catherine Malfitano, Simon Estes, Francisco Araiza, Leonie
Rysanek und James King trat auch Nicolai Gedda auf. Er sang >Dalla sua Pace<
aus Mozarts Don Giovanni und die Sternenarie aus Tosca. London
wurde in alten Archiv-Aufnahmen zugespielt. Am 26. März 1985 starb er.
An den letzten drei Tagen im Juli wurde dann endlich die Giuditta
abgeschlossen, mit der man vor mehr als einem Jahr in München begonnen hatte.
Octavios letztes trauriges Lied im Separée,
>SchönstederFrauen<, wurde zu Geddas
finaler Operettenaufnahme der EMI.
Im September betrat er Neuland, und bereitete als ungenannter
Korrepetitor ein Ensemble junger Sänger auf eine schwedisch gesungene
Aufführung des Onjegin in Stockholm vor.
Tatsächlich sollte der 59jährige auch noch einmal auf die Operettenbühne
zurückkehren. Karl-Heinz Stracke, ein ehemaliger Opernsänger, realisierte mit
seiner Produktionsfirma in den Monaten März und April des Jahres 1985 eine
große Tournee mit Franz Lehárs Land des Lächelns. Für die
Tenorhauptrolle konnte er Anton de Ridder und Nicolai Gedda gewinnen, die
alternierend auftraten. Die Partie der Lisa wurde unter Sylvia Geszty und Tania
Gedda aufgeteilt. Nicolai Gedda trat in München, Saarbrücken, Stuttgart,
Frankfurt, Köln und Münster auf. Der Verfasser saß bei der Vorstellung am 8.
März in der Kölner Sporthalle im Publikum. Ich war von Geddas gesanglicher
Darbietung begeistert, wenngleich auch die Maske und das Bühnenbild sehr zu
wünschen übrig ließen. Die Kapelle im Orchestergraben war schlichtweg
katastrophal. In weiteren Komikerrollen strapazierten Benno Kusche und Chris
Howland die Nerven des Publikums.
Kurz darauf, wenige Tage vor seinem 60. Geburtstag, gab der Sänger ein
Radiointerview mit folgendem Wortlaut:
Das Wichtigste ist, gesund zu bleiben. Ohne Gesundheit
geht überhaupt nichts, besonders im Sängerberuf ist das selbstverständlich das
Wichtigste. Und wie bleibt man gesund? Na ja, man hat Glück, daß keine
Krankheiten kommen. Aber, es ist sehr wichtig auch, ein Leben zu führen, daß
ein Sänger, der seinen Körper und seine Stimme behalten will, auch führen muß!
Und das heißt: Keine Exzesse! Das heißt, ich habe nie geraucht, ich habe nie
zuviel getrunken. Das Nachtleben gefällt mir auch nicht sehr. Ich bin ein
Zuhause-Mensch. Wenn ich Vorstellungen habe, gehe ich gerne früh ins Bett. Ich
esse und trinke auch nur, was sich für einen Sänger gehört, nicht wahr? Nichts
übertreiben!
Das Zweite, was
vielleicht noch wichtiger ist, das man eine gute Technik hat. Ich habe das
Glück gehabt, zwei wunderbare Lehrer gehabt zu haben, die mir sehr geholfen
haben. Beide sind Ende der sechziger Jahre gestorben. Aber ich habe dann weiter
arbeiten können mit meiner Stimme, und das auch eigentlich immer getan. Das ist
auch nicht ganz so einfach, eine Selbstklarheit, daß man an der Stimme weiter
arbeitet. Viele, viele Kollegen und Sänger glauben, daß wenn man an die Spitze
herangekommen ist, dann ist man fertig! Aber ich fand immer, man ist nie
fertig, man muß immer weiter arbeiten, und die Stimme wie ein Smaragd oder
Diamant immer pflegen – und das habe ich auch getan!
Ich hatte schon
einige Jahre Übung und Studium, nicht wahr, mit meinen Lehrern, und bin sehr
schnell sehr weit gegangen, weil ich so viel von Natur hatte! Mein Lehrer,
Carl-Martin Öhmann hat eine phantastische Ausbildung gehabt, und die hat er mir
beigegeben – und ich habe von ihm enorm bekommen in den ersten zwei Jahren.
Ich habe von Natur
aus eine hohe, leichte und nicht sehr große Stimme gehabt, die ich dann das
Glück gehabt habe, weiter zu entwickeln mit Hilfe von – wie ich schon gesagt
habe – meinen zwei Lehrern. Die Tatsache, daß ich schon als kleines Kind
gesungen habe im russi-schen Chor, in der Kirche, diese Tatsache ist sehr
wichtig! Ich kann mich erinnern, in der Wohnung bei der Kirche war so ein
kleines Harmonium. Und bei dem Harmonium – da gibt’s noch Aufnahmen, Photos,
ich stehe da und singe – habe ich auch spielen gelernt. Ich war faul, ja. Aber
damals waren die Eltern so, daß sie mit Energie gezwungen haben, mit ihrem Kind
zu arbeiten. Dafür bin ich auch sehr dankbar. Selbstverständlich auch, daß ich
das Singen als kleiner Junge gern gehabt habe, und besonders Kirchengesänge.
Nicht nur Kirchengesänge, auch russische Volkslieder habe ich als kleines Kind
gelernt.
Ich glaube, am
meisten war das Hauptgewicht doch darauf, als Kind Musik zu lernen. Ich habe
als Kind Noten gelesen wie ein Buch. Das ist sehr wichtig, nicht wahr? Weil, es
ist in der russischen Kirche a capella-Gesang, das heißt ohne Musik. Es hat
auch mein Gehör entwickelt.
Ein Tenor, der
eine leichte Höhe hat, ist natürlich sehr, sehr gefragt, überall! Aber später,
muß ich sagen, und ziemlich früh, war das für mich nicht das Wichtige. Also,
Stimmenprotz! Mich hat immer gereizt die Musik, die musikalischen Werte, die
Schönheit der Musik. Und neue Musik, nicht moderne Musik, selten gehörte Musik
zu entdecken.
Ich habe mit dem
Lohengrin nur einen Versuch gemacht, und das in dem kleinen Theater in
Stockholm. Es ging gut, ja. Es war ein großer Erfolg, aber ich habe sofort
gespürt, daß es nicht für meine Stimme ist. Eine lyrische Stimme soll nicht
Wagner singen. Lohengrin ist wunderbar für die Stimme geschrieben, ist, sagen
wir, sehr italienisch geschrieben. Aber sie ist sehr viel in der Mittellage.
Und will ein lyrischer Tenor, Mozart oder Donizetti, die Flexibilität behalten
in der Stimme, dann darf er Wagner nicht singen. Ich habe das gespürt, und
deshalb Wagner aufgegeben. Da gibt’s nicht ganze Partien, sondern Arien, die
man schon aufnehmen kann, und ziemlich dramatisch klingen. Ein lyrischer Tenor,
der Technik hat, sagen wir ein Don Ottavio oder so, kann mit Technik schon
solche Sachen meistern. Aber nur eine Arie, nicht die ganze Partie. Und
besonders nicht auf der Bühne singen! Im Theater muß man über das Orchester
singen. Mit Ausnahme von Bayreuth. Da ist das Orchester unter der Bühne, da ist
es viel leichter. Aber in einer Oper, so wie hier in München, da muß man sehr
aufpassen, wenn man ein lyrischer Sänger ist. Die Akustik ist schwierig, und da
muß man über ein großes Orchester singen. Und dann muß man ja vielmehr mit den
Muskeln und dem Körper arbeiten, das heißt, daß man viel mehr Kraft geben muß,
als in einem Schallplatten-studio.
Ich habe, glaube
ich, nie mehr als 55 oder 60 Vorstellungen pro Jahr gemacht. Auf jeden Fall
habe ich nie in meinem Leben 100 Vorstellungen gemacht. Das machen die heutigen
Sänger, und da weiß ich nicht, wie lange das dauern kann. Da müßen die Sänger
selbst wählen: Wollen die eine brillante, kurze Karriere – oder wollen die
lange singen? Ich wollte immer lange singen.
Jetzt, wenn die
Jahre vergehen, und man so viel gearbeitet hat, jetzt habe ich große Eile,
soviel wie möglich von der wunderbaren Literatur zu lesen. Ich bin gerade bei
Dostojewskie, und irgendwie, wenn ich jetzt meinen Geburtstag feiern werde –
oder eigentlich nicht, weil, ich werde verschwinden, es ist im Sommer Gott sei
Dank, dann sind alle im Urlaub sowieso! Ich sehe mit Schrecken, das ich von
Dostojewski noch gar nicht alles gelesen habe. Tolstoi, diese wunderbare
russische Literatur, oder französische – das nimmt Zeit. Ansonsten habe ich
große Freude an Briefmarken und an Filme. Ich bin ein Filmfan, sozusagen. Aber,
besondere, gute Filme! Und so, alles das nimmt Zeit! Und woran ich große Freude
habe, ist der Unter-richt. Ich habe damit schon angefangen in Stockholm, Genf,
Rom – Amerika auch, vielleicht. Und ich habe die Erfahrung gemacht, ich mache
das gerne. Ich weiß, daß ich helfen kann, und ich weiß, ich habe die Geduld.
Dafür muß man Geduld haben – und Können, selbstver-ständlich! Ich habe auch
gemerkt, daß diejenigen, die mit mir ein bißchen gearbeitet haben, Fortschritte
gemacht haben. Und das ist eine sehr große Freude“.
Auf die Frage, ob es etwas
gibt, was er noch gerne machen würde, antwortete Gedda:
„Ich muß ehrlich sagen, es gibt nichts. Ich glaube, ich
habe alles gemacht, was ich machen wollte. Ich habe keine Wünsche mehr!“
Die amerikanische Firma BelCanto-Society bietet auch das Video
eines auf 1985 datierten Konzertes an, das angeblich in Monte Carlo
aufgezeichnet wurde. Überlaut und gar nicht Gedda-like ertönen hier die
bekannten Lehár-Evergreens und Lenskis Arie aus Onjegin. Als Dirigenten
würde ich Marc Soustrot identifizieren, und das Aufnahmedatum auf den Sommer
1984 korrigieren, als Gedda in Monte Carlo den Fra Diavolo aufzeichnete.
Am 9. September gedachte man in einem Memorial-Concert in
Stockholm dem 25. Todestag Jussi Björlings. Zu den Ausführenden gehörten neben
Gedda auch Wegbegleiter wie Birgit Nilsson, Elisabeth Söderström und Robert
Merrill. Sogar Björlings Tochter und zwei Söhne traten auf. Das Konzert wurde
vom schwedischen Fernsehen übertragen und später auf LP veröffentlicht. Gedda
sang mit Robert Merrill die Schwurszene aus Verdis La forza del destino (Die
Macht des Schicksals.). Nach dem Duett umarmten sich die beiden Sänger wie
alte Kumpel, und Merrill zeigte dem Publikum zufrieden den gehobenen Daumen.
Eine der außergewöhnlichsten Schallplatten des Tenors war 1985 Leos
Janaceks Tagebuch eines Verschollenen mit Josef Palenicek am Flügel. Der
Liederzyklus wurde in einer einzigen Session aufgezeichnet. Gedda sang in
tschechischer Sprache. Mitte Dezember erschien er dann auf seiner Heimatbühne
in Stockholm noch einmal als Gustav III in Verdis Un ballo in maschera.
Aushangphotos zeigten einen nun sichtlich gealterten Tenor. Kurz darauf, im
Früh-jahr 1986 sang er seine letzte Aufführung in dieser Rolle. Eine dieser
denkwürdigen Vorstellungen – in Anwesenheit von König Carl Gustav XVI und
Königin Silvia – wurde vom schwedischen Fernsehen live ausgestrahlt. Gedda,
jetzt 61 Jahre, liefert eine solide Arbeit in einer schönen Inszenierung.
Die Auftritte des bereits zur Legende gewordenen Sängers wurden nun
immer seltener. Im April 1986 erschien er in einer ZDF-Show des
Stimmungssängers Tony Marshall. Gedda wurde als RittervomhohenC angekündigt, als Kaiser unter den Tenören. Im dunkelblauen
Samtjacket präsentierte er unter dem Beifall des Publikums ein Playback zur
1967er Aufnahme von >Gern´ hab ich die Frau´n geküßt<. Wirklich
überraschend war aber der kuriose gemeinsame Auftritt mit Tony Marshall.
Zusammen stimmten sie das Prodekan-Duett aus Der Vogelhändler an.
Dieser einmalige Moment geriet zu einem Kabinettstückchen, und war kurzzeitig
sogar auf einer LP zur Sendung erhältlich.
Weniger Freude bereitete Gedda dann im Herbst eine Tournée mit dem Don
Kosaken-Chor, der sich unter Michail Minsky neu formiert hatte. Das Projekt
wurde zu einem finanziellen Fiasko mit viel Aufwand und geringen Einnahmen. Der
Verfasser saß bei dem Auftritt am 12. November 1986 im Essener Saalbau im
Publikum. Noch immer drang die kraftvolle Stimme des Tenors auch acapella
bis zu den letzten Reihen. Während eines Aufenthaltes in Paris sah man ihn
neben Barbara Hendricks, Neil Shicoff und Samuel Ramey auch in dem TV-Sender
Anntenne 2 in der Sendung Grand Echiquier. Zeitgleich sang er in einer
Konzertaufführung von Prokofieffs Woina i Mir (Krieg und Frieden.)
Lars Almgren war der Dirigent eines Konzertes, daß Gedda mit Tochter
Tania am 12. April 1987 in Stockholm gab. Noch einmal erklangen Lieder von
Strauß und Lehár, die unter dem Titel Vienesse Delights auch auf
einer CD veröffentlicht wurden. Wer genau hinhört, bemerkt ein leichtes Wackeln
in der Stimme des Tenors. Durch den Alterungsprozess erschlaffen auch die
Muskeln, die den Stimmapparat stützen. Dieses Wackeln ist in allen
Spätaufnahmen von Gedda hörbar. Die sogenannte Stütze war nicht mehr
100% zuverlässig. Das ist besonders auffällig im Mitschnitt seines Auftritts
bei einer großen Wiener Operngala 1988, als er >Amor ti vieta< aus
Fedora mehr balanchierte als vortrug. Das Flackern in der Stimme näherte
sich gefährlich einem Tremolo. An dem Konzert waren auch Eva Marton,
Maria Chiara, Teresa Berganza, Alfredo Kraus und Giacomo Aragall beteiligt.
Geddas letzter Bühnenauftritt in einer Operette galt am 26. Oktober 1987 in der
Wiener Volksoper Lehárs Land des Lächelns mit Sylvana Dussmann unter
Rudolf Bibl. Am 23. November soll er sogar in Nizza noch als Cavaradossi in
Puccinis Tosca aufgetreten sein. Emil Tchakarov wird als Dirigent dieser
Vorstellung ebenso genannt, wie bei einer Tosca-Gesamtaufnahme mit Gedda
aus Sofia. Die vagen Angaben konnten bislang nicht bestätigt werden.
Von den großen Partien verabschiedete sich Nicolai Gedda allmählich. Vom
4. – 15. Juli war er in einem Ensemble zu finden, das in Washington den
Soundtrack zu Wajdas Film Boris Godunow aufnahm, über den es aber keinerlei
Informationen gibt. Die Titelfigur wurde eindrucksvoll durch Ruggiero Raimondi
verkörpert. Gedda sang jetzt die kleine, feine Partie des Narren.
Im Frühjahr 1988 wurde im Jahrbuch der Zeitschrift Opernwelt ein
großes Interview mit Nicolai Gedda veröffentlicht, daß Imre Fabian mit dem
Sänger im Zeitraum mehrerer Jahre geführt hatte. Zur großen Verwunderung sprach
Gedda erstmals über die tatsächlichen Fakten seiner Jugend. Er berichtete von
seinen Zieheltern, und wie peinlich es ihm gewesen sei, über die Schatten
seiner Vergangenheit zu sprechen. Dieses Interview ist aufschlußreicher als
seine Memoiren. Unverständlich bleibt aber, warum man die Aussagen über seine
zweite Ehe gedruckt hat. Damals war Gedda bereits einige Jahre von Anastasia
geschieden.
Wer den Sänger noch einmal auf dem Bildschirm sehen wollte, der mußte zu
Silvester 1988 das ARD-Wunschkonzert einschalten. Ein letztes Mal mimte er mit
Anneliese Rothenberger zu den Klängen der Lustigen Witwe ein
Operettenliebespaar. Gemeinsam tanzten sie dann einen Walzer, hinein ins neue
Jahr 1989. Die Show wurde natürlich vorab aufgezeichnet und erst am
Silvesterabend gesendet. Gedda hat sie sich vermutlich mit Aino daheim in der
Schweiz angesehen.
Auch mir war es vergönnt, den Tenor zuvor noch einmal live zu erleben:
Am 13. November 1988 sang er in der Kölner Philharmonie Lieder von Edvard
Grieg, Henri Duparc, Edouard Lalo, Hugo Wolf, Tschaikowsky und Jules Massenet.
Es war für mich ein besonderes Erlebnis, von Gedda live die Traumerzählung
aus Manon zu hören. Am Flügel begleitete ihn Giovanni Bria.
Die achtziger Jahre neigten sich ihrem Ende zu, und es war klar,
daß auch die Karriere von Nicolai Gedda nur noch kurze Zeit dauern würde. Aber
15 Jahre danach war seine Stimme immer noch zu hören! Mir fällt dazu ein Wort
Ulrich Schreibers ein, der einmal in Bezug zu Gedda „vom Glück der
Beständigkeit“ sprach.