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Nicolai Gedda - Chronologie einer Opernkarriere von Michael Stember

 7. Qualität und Quantität (1970-1979) 9. Ausklang (1989-2005) 


8. Vom Glück der Beständigkeit (1980-1989)

Weil Nicolai Gedda, der große schwedische Tenor, alles gesungen hat, was es zu singen gab, wurde er zur Stimme der Musik, zu einem Sänger, der sich unbeirrbar für Komponisten und deren Musik einsetzte.

So oder ähnlich leitete man zu Beginn der 80er Jahre immer wieder diverse Versuche ein, in Aufsätzen, Essays und Kritiken dem Phänomen des Sängers gerecht zu werden, der auch mit 55 Jahren noch neue, komplexe Partien einstudierte. Sein geliebter Lenski in Onjegin führte ihn noch nach Toronto, zum Maggio Musicale in Florenz und zu Gastspielen ans Moskauer Bolschoi-Theater. In Miami sang er am 18. Januar 1980 unter Antonio de Almeida den Hoffmann in der ersten Ausgabe der Oeser Fassung von Les Contes d´Hoffmann.  In der Carnegie Hall sah man ihn in der Konzertfassung von Massenets Herodiade mit Juan Pons unter Eve Queler. Unermüdlich spielte er mit Jan Eyron einen Zyklus skandinawischer Lieder ein. Und den Silvesterabend 1980 verbrachte er als Nemorino in L´elisir d´amore auf der Bühne der Londoner Covent Garden Opera. Das alles in einem Alter, in dem manchen Tenören nicht einmal die Reste einer Stimme geblieben sind.

Geddas Stimme konservierte sich bis ins Alter infolge der klugen Architektur seiner Lauf-bahn. Heute gibt es nur wenige Tenöre, die diesem Vorbild folgen. So mischt beispielsweise Marcello Alvarez auf seiner Rezitalplatte Belcanto und Verismo, die Musik zweier Jahrhunderte. Er serviert neben >A te o cara< aus I puritani auch die obligatorischen Arien von Puccini – leider zu beiden Seiten in makelhaften Versionen. Sänger wie Joseph Calleja oder Juan Diego Floréz bleiben glücklicherweise innerhalb ihrer Grenzen. Calleja singt den Herzog so kultiviert wie zuletzt nur Alfredo Kraus. Und Floréz´ Ruhm gründet aus seiner Hingabe für Rossini und Donizetti. Ist es falsch, zu behaupten, sie alle wurden von Nicolai Gedda beeinflußt? Heute werden Sänger wie Anna Netrebko eindeutig zu früh in die große internationale Karriere entlassen. Wie wichtig es ist, das Repertoire den eigenen stimmlichen Mitteln anzupassen (und nicht umgekehrt), haben die Beispiele der Sänger gezeigt, die plötzlich wieder verschwanden, weil sie Rollen sangen, die schwerer als ihre Stimmen waren: Sylvia Sass, Rosalind Plowright, Peter Dvorsky oder Salvatore Fisichella - um nur einige zu nennen. Nicolai Gedda hat sie alle überdauert. Gedda übte immer Selbstdisziplin, und lehnte viele Angebote einfach ab. „Und Sie können sicher sein, daß man Gedda mit seinen Sprach-kenntnissen und seiner fast grenzenlosen Tessitura praktisch alles angeboten hat“, sagte die Korrepetitorin Janine Reiss.

In Monte Carlo wirkte er 1981 bei der Aufnahme zu Reynald Hahns Ciboulette mit. Das Werk ist nahezu unbekannt und wird in keinem deutschen Musiklexikon erwähnt. Dazu Gedda: „Es ist eine leichte, aber feine Musik, und gar nicht leicht zu singen. Es ist ein wenig wie Offenbach, nur aus den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts“. Seinen Liederzyklus mit Jan Eyron setzte er vom 16. – 17. Juni mit der Aufnahme  Lieder großer Opernkomponisten fort. Dieses Programm präsentierte er noch bei einem Liederabend 2001 in Wien.

Das Schwere ist, beim Liedgesang Farben zu bekommen, die richtigen Emotionen, nicht zu wenig, nicht zu viel. Daran muß man jahrelang arbeiten. Jahrzehntelang!

Als junger Liedsänger habe ich zuerst immer zu viel machen wollen. Als mir dann jemand sagte, das sei Oper, habe ich Angst bekommen vor der Übertreibung. Ich nahm mich zurück! Die Grenze zwischen dem, was man darf und was nicht, ist ja ganz schmal. Das ist so schwer, da muß man künstlerisch reifer werden. Ich sage den Jungen immer: „Du brauchst 20 Jahre, um deine Gesangstechnik wirklich zu meistern. Und dann sind es noch 30 Jahre, um auch künstlerisch zu reifen...“. Dann aber ist es mit der Stimme vorbei. Sehen Sie, so schwer ist das!

Im Sommer 1981 wurde auch aus dem Festspielhaus in Villach eine Weltreise in Belcanto im Radio übertragen. Die Budapester Philharmoniker unter Ernst Märzendorfer begleiteten Gedda bei Arien von Mozart, Donizetti, Meyerbeer, Tchaikowsky, Massenet, Puccini, Verdi und Lehár. Der Tenor beantwortete dem Conferéncier Marcel Prawy in den Pausen brav die üblichen Fragen nach seiner Karriere und seiner Sprachbegabung.

Die Fernsehzuschauer erlebten Gedda 1981 auch in einer albernen Personality-Show mit Edda Moser, die vom ZDF gesendet wurde. Gemeinsam bewältigte man die Playbacks zu Szenen aus Margarethe, Ein Walzertraum und Die lustige Witwe. Weitere Mitwirkende waren der Kabarettist Georg Kreisler und Erich Kunz mit einem peinlichen Auftritt als greiser Papa-geno.

Mit der Schlagzeile „Meine erste Ehe scheiterte, weil ich viel zu jung geheiratet habe“ fand Gedda im gleichen Jahr sogar den Weg in die Regenbogenpresse. Eine Reporterin der Neuen Post besuchte den Sänger und seine Familie in der Schweiz. Die veröffentlichten Photos zeigen Gedda, seine Gattin Anastasia mit ihrer Mutter Mary und den 5jährigen Sohn Dimitri. In pathetischen Worten wurde Geddas Leben skizziert, und die Geburt Dimitris als Krönung des gemeinsamen Glücks gepriesen. „In Anastasia fand ich die Frau fürs Leben“ soll Gedda gesagt haben. In seinen Memoiren liest sich das aber ganz anders: „Ich war unklug genug, noch einmal überstürzt eine Ehe einzugehen. Aufgrund der sehr belastenden Meinungsver-schiedenheiten in meiner Ehe, die ständig mit Zank und Streit einhergingen, hatte ich psychisch und physisch zu leiden“. Im Frühjahr 1984 leitete Gedda die Trennung von seiner zweiten Ehefrau ein.

1982 begann Gedda, seine Auftritte zu reduzieren. Er dezimierte die Anzahl um die Hälfte. Die Oper trat langsam in den Hintergrund, aber Ausnahmen bestätigten wieder die Regel. In Washington war er der Star einer konzertanten Darbietung von Peter Tschaikowskys Iolanta (Jolanthe.)  Die Titelrolle sang Galina Wischnewskaja, es dirigierte Mstislaw Rostropowitsch. Unter den Mitwirkenden befand sich auch Geddas Tochter Tania.Im Februar gab er mit dem Chor der russischen Gedächtniskirche ein Benefiz-Konzert in Leipzig. Am 15. Februar 1982 sang er in der Düsseldorfer Tonhalle einen Liederabend, der von Ulrich Schreiber in der HiFi-Stereophonie rezensiert wurde:

 „Er sang, entsetzlich begleitet von Jan Eyron, in der ersten Hälfte Hugo-Wolf-Lieder nach Mörike, Eichendorff und Goethe. Ein gemischtes Programm, trotz der Fixierung auf einen Komponisten. Aber auch ein tückisches Programm! Spätestens beim vierten Lied >Verschwiegene Liebe< gingen mir die Ohren sozusagen über, und ich fragte mich: Gibt es das überhaupt noch? Ein Tenor, der im ganzen Lied nicht einen reinen Brustton einsetzt, sondern zwischen Kopftimbré und voix mixte wechselt“.

Ähnlich die Worte Peter G. Davis über eine Konzert-Iolanta im April 1982:

Eben da es scheint, daß seine Karriere zu Ende geht, kehrt Gedda zurück und verblüfft uns alle mit einer neuerlichen Demonstration hinreißender Vokalkunst. Das einschmeichelnd weiche Timbré seiner Stimme, die exquisit modulierten Mezzavoce-Effekte, die aristokratische Eleganz der Phrasierung – all das ist noch immer vorhanden!“.

In meiner Sammlung befindet sich auch der Mitschnitt eines Konzerts vom 19. Juni in Wien. Jan Eyron begleitete ihn erneut bei den Liedern großer Opernkomponisten. Tatsächlich klang die Stimme damals live überzeugender als auf den Schallplatten jener Zeit. Gedda setzte jetzt viel auf den Effekt und auf die artistischen Klangmodulationen, die das Publikum erwartete. Hört man ihn aber unter Serge Baudo in der Aufnahme von Alceste mit Jessye Norman und Bernd Weikl, dann werden Defezite schnell vernehmbar. Ebenso wie in Roussels Padmavati (Mit Marilyn Horne, José van Dam, Laurence Dale unter Michel Plasson) können die Grenzen der gealterten Stimme nicht mehr überhörbar gemacht werden. Die Höhe, die Mittellage, die Stütze – all dies war wirklich noch vorhanden, aber der Glanz war verloren.

Am 12. Dezember 1982 ehrte die Met Gedda anlässlich seiner 25-jährigen Zugehörigkeit mit einer Gala-Matinée. Er sang, begleitet von James Levine am Piano, einige artistische Lieder von Bizet, Glinka und Tschaikowsky und mit seiner Wunschpartnerin Frederica von Stade die Abschiedsszene aus Werther und das alberne Katzenduett von Rossini. Frank Taplin von der Met-Association hielt auf der Bühne eine Laudatio für den Tenor.

Den Aufenthalt in Monte Carlo nutze Gedda im Juni 1983 zur Aufnahme des 1. Teils von Aubers Frau Diavolo, einer köstlichen Opera-comique im lyrischen Stil. Wie Gedda mit 58 Jahren Diavolos große Szene zu Beginn des dritten Aktes sang, das war schon ein Kabinettstückchen. Sie beginnt mit dem Rezitativ >J´ai revu nos amis<, und steigert sich dann in der Arie >J´ai vois marcher sous ma bannière< zu einem heiklen Deklamationsvortrag, der die gesamte Palette stimmlicher Akrobatik in Anspruch nimmt. Bei der amüsierten Schilderung seiner Raubzüge imitiert Diavolo auch das ängstliche Flehen eines kleinen Mädchens. Wie Gedda hier die Phrase >Gráce, Monseigneur le brigand, je ne suis qu ´un pauvre enfant< mit der Mischung aus Brust- und Kopfstimme singt, und bei der Reprise auf pauvre die voix mixte  einsetzt, muß man einfach erlebt haben. Hört man diese Szene zum Vergleich mit Hans Hopf oder Rudolf Schock, dann wird klar, warum Gedda oft als perfekter Stilist bezeichnet wurde. Auch in seiner letzten Operetten-Gesamtaufnahme, Giuditta, gleicht er Unebenheiten mit Stil und technischer Raffinesse wieder aus. Der erste Teil der Sitzungen fand vom 7. – 10. Juni in München statt. Edda Moser war die betörende, untreue Giuditta. Das Münchener Rundfunkorchester wurde von Boskovsky geleitet. Die Stimme des Sängers war nun erheblich schwerer geworden, besaß jetzt mehr Resonanz und Volumen, ohne aber die tenorale Höhe einzubüßen. Der Tenor wußte geschickt seine Höhepunkte zu setzen. Wie sehr er seinen Kollegen damals noch immer überlegen war, zeigte er eindrucksvoll am 23. Oktober 1983 bei der Gala zum 100jährigen Jubiläum der Metropolitan Opera. Er sang >Una furtiva lagrima< aus Donizettis L´elisir d´amore gänzlich in der Mezzavoce und mit einer sicheren Schlußkadenz. Der Dirigent des Abends, James Levine, warf dem Tenor danach einen vielsagenden, bewundernden Blick zu. Erschreckend war allerdings Geddas Aussehen. Er hatte Übergewicht, wirkte bedrückt, krank und müde. Den stürmischen Applaus nahm er ohne Regung zur Kenntnis. Es ist anzunehmen, daß er an diesem Abend wieder einmal einen großen Konflikt mit Anastasia ausgetragen hatte. In seinem Buch gibt es eindeutige Hinweise auf einen Disput. Kurz darauf, am 11. November 1983, verabschiedete sich Gedda vom Publikum der Met mit seiner fünften und letzten Vorstellung von La Traviata an der Seite Kiri te Kanawas. Sein Gesundheitszustand hatte sich drastisch verschlechtert, sein Blutdruck war lebenbedrohlich gestiegen. Nach der Scheidung von Anastasia machte die Genesung nur langsam Fortschritte.

Nach meiner persönlichen Überzeugung ist die Ehe an dem Verhältnis zu Aino Sellermark gescheitert, das Gedda viele Jahre vor seiner Frau verbergen konnte. In seinem Buch spricht Gedda von einer „verherenden Ehe in New York“. Das legt die Vermutung einer oftmaligen Trennung nahe. Aino Sellermark kam genau wie Gedda aus Schweden. Sie verstand sein introperspektives Wesen besser, als es die nach Schauwerten orientierte Anastasia je konnte. Gedda war immer ein einfacher, bescheidener Mensch. Er sehnte sich nach Ruhe, Gemütlichkeit und häuslichem Frieden. Anastasia war das Gegenteil. Gedda verabscheute Prahlerei und jede Art von oberflächlichen Konversationen, wie sie auf Partys und Empfängen unvermeidbar waren. Seine Frau zeigte sich gerne im Rampenlicht. In seinem Buch macht Gedda die Andeutung, seine Frau habe Statussymbole für einen Opernstar als notwendig angesehen. Vielleicht war der gemeinsame Sohn nur der späte Versuch, die Ehe noch zu retten.

Gegen Ende Oktober 1983 sah man Gedda noch einmal gemeinsam mit der Rothenberger im deutschen Fernsehen. Aus Anlass des 30. Todestages von Emmerich Kálmán zeigte das ZDF eine bunte Showrevue mit den bekanntesten Melodien. Gedda und Rothenberger waren in einem Medley aus Gräfin Mariza zu erleben. Vermutlich handelte es sich hierbei um eine im Frühjahr produzierte Aufzeichnung, denn der Sänger machte einen sehr vitalen Eindruck.

Völlig verändert trat er aber im März 1984 vor das Publikum im Wiener Vereinssaal. Mit Tamara Lund präsentierte er unter dem Motto Frühling in Wien einen Strauß beliebter Melodien. Gedda sah müde aus, scheinbar um Jahre gealtert. Er stolperte auf die Bühne, der Dirigent Heinz Wallberg fing ihn auf. Die Arien aus Giuditta und Paganini wurden von stimmungsvollen Ballettszenen gnädig überblendet. Das Duett aus Paganini sang Gedda wie geistesabwesend. Die schwere Zeit, die nun hinter ihm lag, war ihm anzusehen. Zudem war im Januar die Ziehmutter Geddas, seine Tante Olga, verstorben. Nähere Angaben finden sich in seinen Memoiren.

Am 22. März 1984 soll Gedda gemeinsam mit seiner Tochter Tania in Mailand in Kalmans Csardasfürstin aufgetreten sein. Auch diese unwahrscheinliche Angabe ließ sich nicht näher überprüfen. Tatsache ist aber ein Liederabend am 10. April in Livorno mit Pieralba Soroga am Flügel. Mit Jan Eyron spielte er weitere Lieder ein, diesmal von Rangström. Diese Platten sind bei der schwedischen Firma BLUEBELL erschienen. Am 13. Juni 1984 beendete er schließlich die Aufnahmen zu Aubers Frau Diavolo in Monte Carlo. Ohne weitere Angaben wird auch noch ein Konzert auf Video angeboten, das die Firma BelCanto-Society unter dem Titel Nicolai Gedda in Moskau ebenfalls auf 1984 datiert. Gedda singt russische Arien und Lieder mit Chor- und Klavierbegleitung.

Am 21. Juni 1984 feierte eine illustre Schar großer Opernsänger in der Wiener Staatsoper den 65. Geburtstag George Londons, der sich 1977 nach schwerer Krankheit von der Bühne zurückzog. Neben Lucia Popp, Tatiana Troyanos, Edita Gruberova, Catherine Malfitano, Simon Estes, Francisco Araiza, Leonie Rysanek und James King trat auch Nicolai Gedda auf. Er sang >Dalla sua Pace< aus Mozarts Don Giovanni und die Sternenarie aus Tosca. London wurde in alten Archiv-Aufnahmen zugespielt. Am 26. März 1985 starb er.

An den letzten drei Tagen im Juli wurde dann endlich die Giuditta abgeschlossen, mit der man vor mehr als einem Jahr in München begonnen hatte. Octavios letztes trauriges Lied im Separée, >Schönste der Frauen<, wurde zu Geddas finaler Operettenaufnahme der EMI.

Im September betrat er Neuland, und bereitete als ungenannter Korrepetitor ein Ensemble junger Sänger auf eine schwedisch gesungene Aufführung des Onjegin in Stockholm vor.

Tatsächlich sollte der 59jährige auch noch einmal auf die Operettenbühne zurückkehren. Karl-Heinz Stracke, ein ehemaliger Opernsänger, realisierte mit seiner Produktionsfirma in den Monaten März und April des Jahres 1985 eine große Tournee mit Franz Lehárs Land des Lächelns. Für die Tenorhauptrolle konnte er Anton de Ridder und Nicolai Gedda gewinnen, die alternierend auftraten. Die Partie der Lisa wurde unter Sylvia Geszty und Tania Gedda aufgeteilt. Nicolai Gedda trat in München, Saarbrücken, Stuttgart, Frankfurt, Köln und Münster auf. Der Verfasser saß bei der Vorstellung am 8. März in der Kölner Sporthalle im Publikum. Ich war von Geddas gesanglicher Darbietung begeistert, wenngleich auch die Maske und das Bühnenbild sehr zu wünschen übrig ließen. Die Kapelle im Orchestergraben war schlichtweg katastrophal. In weiteren Komikerrollen strapazierten Benno Kusche und Chris Howland die Nerven des Publikums.

Kurz darauf, wenige Tage vor seinem 60. Geburtstag, gab der Sänger ein Radiointerview mit folgendem Wortlaut:

Das Wichtigste ist, gesund zu bleiben. Ohne Gesundheit geht überhaupt nichts, besonders im Sängerberuf ist das selbstverständlich das Wichtigste. Und wie bleibt man gesund? Na ja, man hat Glück, daß keine Krankheiten kommen. Aber, es ist sehr wichtig auch, ein Leben zu führen, daß ein Sänger, der seinen Körper und seine Stimme behalten will, auch führen muß! Und das heißt: Keine Exzesse! Das heißt, ich habe nie geraucht, ich habe nie zuviel getrunken. Das Nachtleben gefällt mir auch nicht sehr. Ich bin ein Zuhause-Mensch. Wenn ich Vorstellungen habe, gehe ich gerne früh ins Bett. Ich esse und trinke auch nur, was sich für einen Sänger gehört, nicht wahr? Nichts übertreiben!

 Das Zweite, was vielleicht noch wichtiger ist, das man eine gute Technik hat. Ich habe das Glück gehabt, zwei wunderbare Lehrer gehabt zu haben, die mir sehr geholfen haben. Beide sind Ende der sechziger Jahre gestorben. Aber ich habe dann weiter arbeiten können mit meiner Stimme, und das auch eigentlich immer getan. Das ist auch nicht ganz so einfach, eine Selbstklarheit, daß man an der Stimme weiter arbeitet. Viele, viele Kollegen und Sänger glauben, daß wenn man an die Spitze herangekommen ist, dann ist man fertig! Aber ich fand immer, man ist nie fertig, man muß immer weiter arbeiten, und die Stimme wie ein Smaragd oder Diamant immer pflegen – und das habe ich auch getan!

  Ich hatte schon einige Jahre Übung und Studium, nicht wahr, mit meinen Lehrern, und bin sehr schnell sehr weit gegangen, weil ich so viel von Natur hatte! Mein Lehrer, Carl-Martin Öhmann hat eine phantastische Ausbildung gehabt, und die hat er mir beigegeben – und ich habe von ihm enorm bekommen in den ersten zwei Jahren.

  Ich habe von Natur aus eine hohe, leichte und nicht sehr große Stimme gehabt, die ich dann das Glück gehabt habe, weiter zu entwickeln mit Hilfe von – wie ich schon gesagt habe – meinen zwei Lehrern. Die Tatsache, daß ich schon als kleines Kind gesungen habe im russi-schen Chor, in der Kirche, diese Tatsache ist sehr wichtig! Ich kann mich erinnern, in der Wohnung bei der Kirche war so ein kleines Harmonium. Und bei dem Harmonium – da gibt’s noch Aufnahmen, Photos, ich stehe da und singe – habe ich auch spielen gelernt. Ich war faul, ja. Aber damals waren die Eltern so, daß sie mit Energie gezwungen haben, mit ihrem Kind zu arbeiten. Dafür bin ich auch sehr dankbar. Selbstverständlich auch, daß ich das Singen als kleiner Junge gern gehabt habe, und besonders Kirchengesänge. Nicht nur Kirchengesänge, auch russische Volkslieder habe ich als kleines Kind gelernt.

  Ich glaube, am meisten war das Hauptgewicht doch darauf, als Kind Musik zu lernen. Ich habe als Kind Noten gelesen wie ein Buch. Das ist sehr wichtig, nicht wahr? Weil, es ist in der russischen Kirche a capella-Gesang, das heißt ohne Musik. Es hat auch mein Gehör entwickelt.

  Ein Tenor, der eine leichte Höhe hat, ist natürlich sehr, sehr gefragt, überall! Aber später, muß ich sagen, und ziemlich früh, war das für mich nicht das Wichtige. Also, Stimmenprotz! Mich hat immer gereizt die Musik, die musikalischen Werte, die Schönheit der Musik. Und neue Musik, nicht moderne Musik, selten gehörte Musik zu entdecken.

  Ich habe mit dem Lohengrin nur einen Versuch gemacht, und das in dem kleinen Theater in Stockholm. Es ging gut, ja. Es war ein großer Erfolg, aber ich habe sofort gespürt, daß es nicht für meine Stimme ist. Eine lyrische Stimme soll nicht Wagner singen. Lohengrin ist wunderbar für die Stimme geschrieben, ist, sagen wir, sehr italienisch geschrieben. Aber sie ist sehr viel in der Mittellage. Und will ein lyrischer Tenor, Mozart oder Donizetti, die Flexibilität behalten in der Stimme, dann darf er Wagner nicht singen. Ich habe das gespürt, und deshalb Wagner aufgegeben. Da gibt’s nicht ganze Partien, sondern Arien, die man schon aufnehmen kann, und ziemlich dramatisch klingen. Ein lyrischer Tenor, der Technik hat, sagen wir ein Don Ottavio oder so, kann mit Technik schon solche Sachen meistern. Aber nur eine Arie, nicht die ganze Partie. Und besonders nicht auf der Bühne singen! Im Theater muß man über das Orchester singen. Mit Ausnahme von Bayreuth. Da ist das Orchester unter der Bühne, da ist es viel leichter. Aber in einer Oper, so wie hier in München, da muß man sehr aufpassen, wenn man ein lyrischer Sänger ist. Die Akustik ist schwierig, und da muß man über ein großes Orchester singen. Und dann muß man ja vielmehr mit den Muskeln und dem Körper arbeiten, das heißt, daß man viel mehr Kraft geben muß, als in einem Schallplatten-studio.

  Ich habe, glaube ich, nie mehr als 55 oder 60 Vorstellungen pro Jahr gemacht. Auf jeden Fall habe ich nie in meinem Leben 100 Vorstellungen gemacht. Das machen die heutigen Sänger, und da weiß ich nicht, wie lange das dauern kann. Da müßen die Sänger selbst wählen: Wollen die eine brillante, kurze Karriere – oder wollen die lange singen? Ich wollte immer lange singen.

  Jetzt, wenn die Jahre vergehen, und man so viel gearbeitet hat, jetzt habe ich große Eile, soviel wie möglich von der wunderbaren Literatur zu lesen. Ich bin gerade bei Dostojewskie, und irgendwie, wenn ich jetzt meinen Geburtstag feiern werde – oder eigentlich nicht, weil, ich werde verschwinden, es ist im Sommer Gott sei Dank, dann sind alle im Urlaub sowieso! Ich sehe mit Schrecken, das ich von Dostojewski noch gar nicht alles gelesen habe. Tolstoi, diese wunderbare russische Literatur, oder französische – das nimmt Zeit. Ansonsten habe ich große Freude an Briefmarken und an Filme. Ich bin ein Filmfan, sozusagen. Aber, besondere, gute Filme! Und so, alles das nimmt Zeit! Und woran ich große Freude habe, ist der Unter-richt. Ich habe damit schon angefangen in Stockholm, Genf, Rom – Amerika auch, vielleicht. Und ich habe die Erfahrung gemacht, ich mache das gerne. Ich weiß, daß ich helfen kann, und ich weiß, ich habe die Geduld. Dafür muß man Geduld haben – und Können, selbstver-ständlich! Ich habe auch gemerkt, daß diejenigen, die mit mir ein bißchen gearbeitet haben, Fortschritte gemacht haben. Und das ist eine sehr große Freude“.

Auf die Frage, ob es etwas gibt, was er noch gerne machen würde, antwortete Gedda:

„Ich muß ehrlich sagen, es gibt nichts. Ich glaube, ich habe alles gemacht, was ich machen wollte. Ich habe keine Wünsche mehr!“

Die amerikanische Firma BelCanto-Society bietet auch das Video eines auf 1985 datierten Konzertes an, das angeblich in Monte Carlo aufgezeichnet wurde. Überlaut und gar nicht Gedda-like ertönen hier die bekannten Lehár-Evergreens und Lenskis Arie aus Onjegin. Als Dirigenten würde ich Marc Soustrot identifizieren, und das Aufnahmedatum auf den Sommer 1984 korrigieren, als Gedda in Monte Carlo den Fra Diavolo aufzeichnete.

Am 9. September gedachte man in einem Memorial-Concert in Stockholm dem 25. Todestag Jussi Björlings. Zu den Ausführenden gehörten neben Gedda auch Wegbegleiter wie Birgit Nilsson, Elisabeth Söderström und Robert Merrill. Sogar Björlings Tochter und zwei Söhne traten auf. Das Konzert wurde vom schwedischen Fernsehen übertragen und später auf LP veröffentlicht. Gedda sang mit Robert Merrill die Schwurszene aus Verdis La forza del destino (Die Macht des Schicksals.). Nach dem Duett umarmten sich die beiden Sänger wie alte Kumpel, und Merrill zeigte dem Publikum zufrieden den gehobenen Daumen.

Eine der außergewöhnlichsten Schallplatten des Tenors war 1985 Leos Janaceks Tagebuch eines Verschollenen mit Josef Palenicek am Flügel. Der Liederzyklus wurde in einer einzigen Session aufgezeichnet. Gedda sang in tschechischer Sprache. Mitte Dezember erschien er dann auf seiner Heimatbühne in Stockholm noch einmal als Gustav III in Verdis Un ballo in maschera. Aushangphotos zeigten einen nun sichtlich gealterten Tenor. Kurz darauf, im Früh-jahr 1986 sang er seine letzte Aufführung in dieser Rolle. Eine dieser denkwürdigen Vorstellungen – in Anwesenheit von König Carl Gustav XVI und Königin Silvia – wurde vom schwedischen Fernsehen live ausgestrahlt. Gedda, jetzt 61 Jahre, liefert eine solide Arbeit in einer schönen Inszenierung.

Die Auftritte des bereits zur Legende gewordenen Sängers wurden nun immer seltener. Im April 1986 erschien er in einer ZDF-Show des Stimmungssängers Tony Marshall. Gedda wurde als Ritter vom hohen C angekündigt, als Kaiser unter den Tenören. Im dunkelblauen Samtjacket präsentierte er unter dem Beifall des Publikums ein Playback zur 1967er Aufnahme von >Gern´ hab ich die Frau´n geküßt<. Wirklich überraschend war aber der kuriose gemeinsame Auftritt mit Tony Marshall. Zusammen stimmten sie das Prodekan-Duett aus Der Vogelhändler an. Dieser einmalige Moment geriet zu einem Kabinettstückchen, und war kurzzeitig sogar auf einer LP zur Sendung erhältlich.

Weniger Freude bereitete Gedda dann im Herbst eine Tournée mit dem Don Kosaken-Chor, der sich unter Michail Minsky neu formiert hatte. Das Projekt wurde zu einem finanziellen Fiasko mit viel Aufwand und geringen Einnahmen. Der Verfasser saß bei dem Auftritt am 12. November 1986 im Essener Saalbau im Publikum. Noch immer drang die kraftvolle Stimme des Tenors auch a capella bis zu den letzten Reihen. Während eines Aufenthaltes in Paris sah man ihn neben Barbara Hendricks, Neil Shicoff und Samuel Ramey auch in dem TV-Sender Anntenne 2 in der Sendung Grand Echiquier. Zeitgleich sang er in einer Konzertaufführung von Prokofieffs Woina i Mir (Krieg und Frieden.)

Lars Almgren war der Dirigent eines Konzertes, daß Gedda mit Tochter Tania am 12. April 1987 in Stockholm gab. Noch einmal erklangen Lieder von Strauß und Lehár, die unter dem Titel Vienesse Delights auch auf einer CD veröffentlicht wurden. Wer genau hinhört, bemerkt ein leichtes Wackeln in der Stimme des Tenors. Durch den Alterungsprozess erschlaffen auch die Muskeln, die den Stimmapparat stützen. Dieses Wackeln ist in allen Spätaufnahmen von Gedda hörbar. Die sogenannte Stütze war nicht mehr 100% zuverlässig. Das ist besonders auffällig im Mitschnitt seines Auftritts bei einer großen Wiener Operngala 1988, als er >Amor ti vieta< aus Fedora mehr balanchierte als vortrug. Das Flackern in der Stimme näherte sich gefährlich einem Tremolo. An dem Konzert waren auch Eva Marton, Maria Chiara, Teresa Berganza, Alfredo Kraus und Giacomo Aragall beteiligt. Geddas letzter Bühnenauftritt in einer Operette galt am 26. Oktober 1987 in der Wiener Volksoper Lehárs Land des Lächelns mit Sylvana Dussmann unter Rudolf Bibl. Am 23. November soll er sogar in Nizza noch als Cavaradossi in Puccinis Tosca aufgetreten sein. Emil Tchakarov wird als Dirigent dieser Vorstellung ebenso genannt, wie bei einer Tosca-Gesamtaufnahme mit Gedda aus Sofia. Die vagen Angaben konnten bislang nicht bestätigt werden.

Von den großen Partien verabschiedete sich Nicolai Gedda allmählich. Vom 4. – 15. Juli war er in einem Ensemble zu finden, das in Washington den Soundtrack zu Wajdas Film Boris Godunow aufnahm, über den es aber keinerlei Informationen gibt. Die Titelfigur wurde eindrucksvoll durch Ruggiero Raimondi verkörpert. Gedda sang jetzt die kleine, feine Partie des Narren.

Im Frühjahr 1988 wurde im Jahrbuch der Zeitschrift Opernwelt ein großes Interview mit Nicolai Gedda veröffentlicht, daß Imre Fabian mit dem Sänger im Zeitraum mehrerer Jahre geführt hatte. Zur großen Verwunderung sprach Gedda erstmals über die tatsächlichen Fakten seiner Jugend. Er berichtete von seinen Zieheltern, und wie peinlich es ihm gewesen sei, über die Schatten seiner Vergangenheit zu sprechen. Dieses Interview ist aufschlußreicher als seine Memoiren. Unverständlich bleibt aber, warum man die Aussagen über seine zweite Ehe gedruckt hat. Damals war Gedda bereits einige Jahre von Anastasia geschieden.

Wer den Sänger noch einmal auf dem Bildschirm sehen wollte, der mußte zu Silvester 1988 das ARD-Wunschkonzert einschalten. Ein letztes Mal mimte er mit Anneliese Rothenberger zu den Klängen der Lustigen Witwe ein Operettenliebespaar. Gemeinsam tanzten sie dann einen Walzer, hinein ins neue Jahr 1989. Die Show wurde natürlich vorab aufgezeichnet und erst am Silvesterabend gesendet. Gedda hat sie sich vermutlich mit Aino daheim in der Schweiz angesehen.

Auch mir war es vergönnt, den Tenor zuvor noch einmal live zu erleben: Am 13. November 1988 sang er in der Kölner Philharmonie Lieder von Edvard Grieg, Henri Duparc, Edouard Lalo, Hugo Wolf, Tschaikowsky und Jules Massenet. Es war für mich ein besonderes Erlebnis, von Gedda live die Traumerzählung aus Manon zu hören. Am Flügel begleitete ihn Giovanni Bria.

 Die achtziger Jahre neigten sich ihrem Ende zu, und es war klar, daß auch die Karriere von Nicolai Gedda nur noch kurze Zeit dauern würde. Aber 15 Jahre danach war seine Stimme immer noch zu hören! Mir fällt dazu ein Wort Ulrich Schreibers ein, der einmal in Bezug zu Gedda „vom Glück der Beständigkeit“ sprach.


 7. Qualität und Quantität (1970-1979) 9. Ausklang (1989-2005)