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Ein Interview von Gerhard Persché
(in Opernwelt November 1999)
 

Meine Lieblingspartien habe ich nie gesungen...

Nicolai Gedda über die Gefahr der Verführung, über seinen Lohengrin und Mozart als das Maß aller Dinge

Beinahe ein halbes Jahrhundert: nicht nur in unserer schnellebigen Zeit ist eine so lange währende Karriere wie die Ihre ungewöhnlich ...
...aber einfach zu erklären: Ich habe meine wirklichen Lieblingspartien nie gesungen! Das ist keineswegs bloß scherzhaft gemeint. Denn als ich jung war und mir mit Hilfe von Schallplatten meine Idealwelt in Sachen Oper aufbaute, schwärmte ich vor allem für die italienischen Spinto-Partien, den Manrico, den Radames, den Otello. Auch den Canio. Wer liebt nicht „Ridi, Pagliaccio“?! Aber ich habe mir versagt, sie auf der Bühne zu singen – hätte ich’s getan, hätte ich meine Karriere in der Badewanne fortsetzen können.

Obwohl ich bei den Zugaben Ihrer Lieder- und Arienabende, als Sie auch ins schwerere Fach vorstießen, stets den Eindruck hatte, daß Ihre Stimme diesen Aufgaben gewachsen gewesen wäre.
Ich weiß, Kritiker haben bei mir oft den Vergleich mit dem Singen von den Zinsen, nicht vom Kapital, gebraucht – wahrscheinlich, weil ich als junger Mensch Bankbeamter war. Doch meine Stimme war immer schlank; ich habe die Leichtigkeit für die ganz hohen Töne. Was ich in meiner Jugend im Falsett gesungen habe, konnte ich später dank meiner Schulung auf Stütze singen. Wenn ich in der „Perlenfischer“-Arie „Je crois entendre encore“ – die ich auch heute noch original mache, in a-moll – das h und c im Piano singe, dann ist das kein Falsett, sondern ein Mezzavoce. Das ist gestützt. Diese Leichtigkeit habe ich immer gehabt; doch in den Spinto-Partien hätte ich meine Stimme „breit“ machen müssen, vor allem in der Mittellage, und das hätte mich meine Höhe gekostet.
Außerdem finde ich, daß man für italienische Rollen jene Italianità braucht, die ich nicht habe. Es ist eine Geschmackssache, aber für mich war das lateinische Timbre in solchen Partien immer wichtig. Als ich Platten sammelte, war mein lieber Jussi Björling für mich nur zweite Wahl, obwohl er alles wunderbar gesungen hat. Doch ich wollte z.B. im Verdi- und Puccini-Fach lieber einen Tito Schipa hören, einen Fernando de Lucia, Alessandro Bonci, Giacomco Lauri-Volpi. Nicht Pertile, der hat mir zu sehr gebrüllt. Ein idealer Manrico und Kalaf war für mich auch Corelli.
Ich ging aus diesen Gründen mit mir stets sehr kritisch um. Meiner Meinung war ich ja auch kein Rodolfo. Nemorino auch nicht. Das französische Fach, ja.

Auch ein Benvenuto Cellini, eine der schwierigsten Tenorpartien überhaupt, mit dem piano zu singenden hohen Des, und kurz darauf mit einem hohen C im Forte.
Eine mörderische Partie – aber gut für meine Stimme. Mich hat auch dieser Renaissancecharakter sehr interessiert, der alles umfaßt, große Zärtlichkeit und Brutalität bis zum Mord.
Aber ich möchte nochmals zurück zu unserem Ausgangspunkt, zur „langen Karriere“. Ein Sänger darf einfach nicht alles singen. Man kann nicht an einem Abend lyrische und am nächsten dramatische Rollen machen, eine der beiden leidet. Es ist ja von vornherein eine Frage der Perspektive: Will ich lange singen, oder kümmere ich mich nicht darum und gebe mich jeden Abend völlig aus, ohne an die Dauer meiner Karriere zu denken – wie Maria Callas. Sie hat Raubbau an ihrer Stimme getrieben, wollte alles singen, alles geben. Die größte Singdarstellerin, ein Erlebnis. Eine Kerze, die an beiden Enden brannte.

Von sich selbst sagten Sie, Sie wären nie ein besonderer Bühnendarsteller gewesen.
Ich war auf der Bühne vor allem anfangs sehr scheu. Der Grund lag in meiner Kindheit, bei meinen Eltern – die ja nicht meine eigenen Eltern waren. Meine „Mutter“ war eigentlich meine Tante, die Schwester meiner leiblichen Mutter, hatte mich aber adoptiert. Gerade deswegen haben meine Eltern mich vielleicht mehr über-beschützt; sie erzogen mich sehr streng. Ich war enorm schüchtern. Als ich dann meine ersten Schritte auf der Bühne machte, war ich fast paralysiert. Ich hatte auch nie dieses südländische „Hoppla, jetzt komme ich“, sondern blieb eher introvertiert. Das Bühnentalent wurde mir nicht in die Wiege gelegt. Ich war kein geborener Darsteller, mußte es mir erarbeiten – mußte mir vor allem die Hemmungen wegarbeiten, um mich innerlich freizugeben.

Dies klingt, als hätten Sie bei Ihren Auftritten stets kontrollierend neben sich gestanden.
In gewisser Weise stimmt das auch, auf jeden Fall für die ersten Jahre meiner Karriere. Aber ich konnte mir den Zugang zu den Partien über den Charakter der Figuren verschaffen, darum haben mich gebrochene Persönlichkeiten – wie zum Beispiel der erwähnte Benvenuto Cellini – immer mehr interessiert als „eindimensionale“. Vielleicht auch, weil man sich hinter einem interessanten Charakter besser „verstecken“ kann. Rollen, bei denen man sich vor allem selbst zur Schau stellen mußte, gewisse Heldenpartien etwa, lagen mir nie.

Sie haben aber durchaus auch Spinto- und „Helden“-Partien gesungen, ich denke an den Arrigo in „I Vespri Siciliani“, an den Lohengrin, an den Hermann in „Pique Dame“...
Das waren alles Irrtümer. Ich wurde auch zu einigen Dingen überredet. Wissen Sie, daß mich Karajan und Walter Legge ganz am Anfang meiner Karriere als Bacchus in ihrer „Ariadne“-Aufnahme wollten? Ein Wunder hat mich gerettet – ich hatte schon einen Vertrag für Gounods „Mireille“ mit Cluytens in Aix-en-Provence, Vorstellungen und Aufnahme, und mußte den beiden absagen. Sie waren wütend. Legge und Karajan glaubten, ich könnte und sollte alles singen.

Nun hat Karajan aber für Schallplattenaufnahmen öfters sozusagen mit Spatzen auf Kanonen geschossen und eher nach Stimmfarben denn nach Fach besetzt, ich denke an Katja Ricciarelli als Turandot. Oder José Carreras als Radames – was Mario del Monaco zur bekannten Äußerung verleitete, das wäre nicht „Aida“, sondern „Nemorino in Ägypten“.
Man sagt immer, mit Karajan hätte auch ein Jaquino Otello singen können, er habe in seiner Klangdisposition so sehr auf die Stimmen Rücksicht genommen, habe sie „getragen“. Aber darum geht es ja nicht. Bestimmte Partien brauchen einfach mehr „Raum“ in der Stimme; wenn der fehlt, merkt man das auch übers Mikrofon. Und ich muß sagen, daß es Maestro Karajan letztlich gleichgültig war, was mit einer Stimme danach passierte; es wäre ihm völlig egal gewesen, wenn ich nach dem Bacchus stimmlich draufgegangen wäre.
Von Maestro Levine wurde ich überredet, den Arrigo zu singen. „Nicolai“, sagte er, „die ‚Vespri‘ sind ein französischer Verdi. Arrigo braucht kein Manrico zu sein“. Aber richtig war’s für mich nicht. Die Partie ist etwas für Domingo, nicht für einen Lyrischen. Oder der Hermann, den ich ebenfalls an der „Met“ gesungen und auch sehr gerne gehabt habe – aber die Artillerie für die Finali erster oder zweiter Akt hatte ich nicht wirklich in der Stimme. Den Arrigo habe ich sechs-, siebenmal gemacht – beim vierten oder fünften Mal fühlte ich mich wunderbar, da war die Partie in der Stimme. Trotzdem war mir klar: Das mache ich nicht mehr. Mit dem Hermann war’s genauso. Man muß aus Erfahrungen lernen.

Und Palestrina? Und Lohengrin?
Palestrina ist eine schwere, aber eine lyrische, in großen Zügen nahezu „liedhafte“ Partie. Der junge Wunderlich hat sie in Wien gesungen, Anfang der sechziger Jahre. Für mich war es ein großes Erlebnis, sie mit Rafael Kubelik aufnehmen zu dürfen.
Der Lohengrin wiederum stellte für mich einen weiteren Irrtum dar; daß ich ihn beging, war wieder einmal das Ergebnis von Überredungskunst – diesmal der Stockholmer Opernleute. „Nicolai, die Stockholmer Oper ist ja kein großes Theater; und ‚Lohengrin‘ ist doch ein ‚italienischer‘ Wagner, das ist Belcanto. Und Varviso, der Dirigent, ist ein ganz lyrischer“. Ja, aber man braucht doch die Mittellage für diese Partie – eine Mittellage mit Durchschlagskraft, die ich so nicht hatte.

Sie bekamen für diese Partie auch ein Angebot nach Bayreuth. Aber es wurde dann nichts daraus.
Weil ich zur Bedingung machte, daß ich mindestens zwei Tage Pause zwischen den Vorstellungen haben mußte. Das wollte man mir nicht versprechen. Da hab‘ ich den Vertrag nicht unterschrieben. Die Wagners waren wohl böse, und ich hab‘ auch nie wieder ein Angebot aus Bayreuth bekommen – was mich nicht weiter störte, denn als Wagner-Sänger wollte ich ohnehin nicht Karriere machen.
Kurz nach meinem Stockholmer Lohengrin nahm ich übrigens den Belmonte auf, mit Josef Krips. Das wollte ich besonders schön machen mit diesem ganz großen Mozartdirigenten. Doch es wurde ein Problem. Irgendwie ging’s, aber es ist nichtmal achtzig Prozent von dem geworden, was möglich gewesen wäre. Die Stimme war zu schwer nach dem Lohengrin, steif, unflexibel; ich konnte die nötige Mozart-Leichtigkeit nicht finden.

Apropos Mozart-Leichtigkeit: Der Pianist Arthur Schnabel pflegte neuen Schülern Lisztsche Doppeloktaven vorzuspielen und zu sagen, „das ist leicht“. Und danach ein paar Takte aus einem langsamen Mozart-Satz: „Das ist schwer“.
Er spricht natürlich von der Interpretation, die freilich auch mit dem Technischen zusammenhängt. Ich sage das meinen Schülern stets: „Mozart ist das Maß aller Dinge“. Nehmen Sie die Tamino-Arie: Sie hat alles, was man technisch und stilistisch braucht. Wenn es gut sein soll, muß alles stimmen, technisch, von der Phrasierung her. Man kann sich auch nicht hinter dem Orchester verstecken, sondern steht sozusagen „nackt“ da. Wenn man diese Arie gut singen kann, kann man fast alles gut singen.

Jürgen Kesting beschreibt in seinem Buch „Die großen Sänger“ eine Ihrer ganz großen Stärken: den völlig idiomatischen Umgang mit dem Wort: „Anders als viele Sänger, die nur die Lautschrift ihrer Partien lernen, beherrscht Gedda die Sprachen bis in die feinsten Nuancen der Diktion und Inflektionen des Klanges“.
Es wäre ideal, wenn ein Sänger die Sprachen, in denen er singt, so beherrscht, daß er darin zu denken vermag, „zwischen den Zeilen“ lesen kann. Vor allem für den Liedgesang.

Sie hatten ja den Vorteil einer multilingualen Erziehung: In Ihrer Familie sprach man schwedisch und russisch; als Kind verbrachten Sie einige Jahre in Leipzig, wo Sie auch vom Deutschen einiges mitbekamen; das Französische lernten Sie in der Schule.
In Leipzig war ich noch sehr klein, außerdem hatte mein Stiefvater die Stelle eines Kantors der russisch-orthodoxen Gemeinde; in meiner Umgebung wurde also hauptsächlich russisch gesprochen. So ist mir der Klang der deutschen Sprache wohl vertraut, aber ich kann nicht behaupten, daß ich in diesem Idiom aufgewachsen bin. Das deutsche Lied, beispielsweise, blieb daher für mich stets schwierig. Es war immer mein Ziel, daran zu arbeiten; und ich habe bei jeder Aufnahme, die ich machte, Neues für mich entdeckt. Aber mein Ideal im Bereich des deutschen Liedes ist natürlich Fischer-Dieskau; oder früher Heinrich Schlusnus. Ich habe auch einen Nicht-Deutschen sehr bewundert: Aksel Schiötz, den Dänen – was er aus einem Lied holen konnte, war ein Wunder.
Leider muß ich sagen, daß viele meiner Begleiter mir nicht wirklich geholfen haben. Erik Werba etwa gab mir sehr wenig Hinweise zur Interpretation. Ich habe gesagt: „Komm, sag‘ mir doch, wie ich dieses und jenes gestalten soll“. Er fand alles gut, aber für mich war’s nicht genug. Auch Gerald Moore hat mir nicht sehr viel gesagt. Um in das deutsche Lied, die deutsche Poesie wirklich eindringen zu können, muß man eigentlich schon in der Schule damit anfangen, die Sprache zu beherrschen und zu durchleuchten.

Es gibt heute zahlreiche junge Sänger., die sich ans Lied wagen. Auch Sie selbst hatten jung damit angefangen. Andererseits sprachen Sie aber einmal von einem unbedingt nötigen Reifeprozeß gerade beim Liedgesang.
Nehmen wir ein Beispiel, vielleicht Schuberts „Nacht und Träume“, ein Lied, das ich sehr gerne singe. Man kann es quasi als eine Gesangsübung machen, ganz Legato, à la Belcanto, aber es geht nicht darum. Das Schwere ist, Farben zu bekommen, die richtigen Emotionen, nicht zu wenig, nicht zu viel. Daran muß man jahrelang arbeiten. Jahrzehntelang.
Als junger Liedsänger habe ich zuerst immer zu viel machen wollen. Als mir dann jemand sagte, das sei Oper, habe ich Angst bekommen vor der Übertreibung, habe mich zurückgenommen. Die Grenze zwischen dem, was man darf und was nicht, ist ja ganz schmal. Das ist so schwer, da muß man künstlerisch reifer werden. Ich sage den Jungen immer: „Du brauchst zwanzig Jahre, um deine Gesangstechnik wirklich zu bemeistern. Und dann sind es noch dreißig Jahre, um auch künstlerisch völlig zu reifen...“ Dann aber ist es mit der Stimme meist vorbei. Sehen Sie – so schwer ist das ...