|
Meine Lieblingspartien habe ich nie gesungen...
Nicolai Gedda über die Gefahr der Verführung, über seinen Lohengrin und Mozart als das Maß aller Dinge
Beinahe ein halbes Jahrhundert: nicht nur in unserer schnellebigen
Zeit ist eine so lange währende Karriere wie die Ihre ungewöhnlich
...
...aber einfach zu erklären: Ich habe meine wirklichen Lieblingspartien
nie gesungen! Das ist keineswegs bloß scherzhaft gemeint. Denn als
ich jung war und mir mit Hilfe von Schallplatten meine Idealwelt in Sachen
Oper aufbaute, schwärmte ich vor allem für die italienischen
Spinto-Partien, den Manrico, den Radames, den Otello. Auch den Canio. Wer
liebt nicht „Ridi, Pagliaccio“?! Aber ich habe mir versagt, sie auf der
Bühne zu singen – hätte ich’s getan, hätte ich meine Karriere
in der Badewanne fortsetzen können.
Obwohl ich bei den Zugaben Ihrer Lieder- und Arienabende, als
Sie auch ins schwerere Fach vorstießen, stets den Eindruck hatte,
daß Ihre Stimme diesen Aufgaben gewachsen gewesen wäre.
Ich weiß, Kritiker haben bei mir oft den Vergleich mit dem
Singen von den Zinsen, nicht vom Kapital, gebraucht – wahrscheinlich, weil
ich als junger Mensch Bankbeamter war. Doch meine Stimme war immer schlank;
ich habe die Leichtigkeit für die ganz hohen Töne. Was ich in
meiner Jugend im Falsett gesungen habe, konnte ich später dank meiner
Schulung auf Stütze singen. Wenn ich in der „Perlenfischer“-Arie „Je
crois entendre encore“ – die ich auch heute noch original mache, in a-moll
– das h und c im Piano singe, dann ist das kein Falsett, sondern ein Mezzavoce.
Das ist gestützt. Diese Leichtigkeit habe ich immer gehabt; doch in
den Spinto-Partien hätte ich meine Stimme „breit“ machen müssen,
vor allem in der Mittellage, und das hätte mich meine Höhe gekostet.
Außerdem finde ich, daß man für italienische Rollen
jene Italianità braucht, die ich nicht habe. Es ist eine Geschmackssache,
aber für mich war das lateinische Timbre in solchen Partien immer
wichtig. Als ich Platten sammelte, war mein lieber Jussi Björling
für mich nur zweite Wahl, obwohl er alles wunderbar gesungen hat.
Doch ich wollte z.B. im Verdi- und Puccini-Fach lieber einen Tito Schipa
hören, einen Fernando de Lucia, Alessandro Bonci, Giacomco Lauri-Volpi.
Nicht Pertile, der hat mir zu sehr gebrüllt. Ein idealer Manrico und
Kalaf war für mich auch Corelli.
Ich ging aus diesen Gründen mit mir stets sehr kritisch um.
Meiner Meinung war ich ja auch kein Rodolfo. Nemorino auch nicht. Das französische
Fach, ja.
Auch ein Benvenuto Cellini, eine der schwierigsten Tenorpartien
überhaupt, mit dem piano zu singenden hohen Des, und kurz darauf mit
einem hohen C im Forte.
Eine mörderische Partie – aber gut für meine Stimme. Mich
hat auch dieser Renaissancecharakter sehr interessiert, der alles umfaßt,
große Zärtlichkeit und Brutalität bis zum Mord.
Aber ich möchte nochmals zurück zu unserem Ausgangspunkt,
zur „langen Karriere“. Ein Sänger darf einfach nicht alles singen.
Man kann nicht an einem Abend lyrische und am nächsten dramatische
Rollen machen, eine der beiden leidet. Es ist ja von vornherein eine Frage
der Perspektive: Will ich lange singen, oder kümmere ich mich nicht
darum und gebe mich jeden Abend völlig aus, ohne an die Dauer meiner
Karriere zu denken – wie Maria Callas. Sie hat Raubbau an ihrer Stimme
getrieben, wollte alles singen, alles geben. Die größte Singdarstellerin,
ein Erlebnis. Eine Kerze, die an beiden Enden brannte.
Von sich selbst sagten Sie, Sie wären nie ein besonderer
Bühnendarsteller gewesen.
Ich war auf der Bühne vor allem anfangs sehr scheu. Der Grund
lag in meiner Kindheit, bei meinen Eltern – die ja nicht meine eigenen
Eltern waren. Meine „Mutter“ war eigentlich meine Tante, die Schwester
meiner leiblichen Mutter, hatte mich aber adoptiert. Gerade deswegen haben
meine Eltern mich vielleicht mehr über-beschützt; sie erzogen
mich sehr streng. Ich war enorm schüchtern. Als ich dann meine ersten
Schritte auf der Bühne machte, war ich fast paralysiert. Ich hatte
auch nie dieses südländische „Hoppla, jetzt komme ich“, sondern
blieb eher introvertiert. Das Bühnentalent wurde mir nicht in die
Wiege gelegt. Ich war kein geborener Darsteller, mußte es mir erarbeiten
– mußte mir vor allem die Hemmungen wegarbeiten, um mich innerlich
freizugeben.
Dies klingt, als hätten Sie bei Ihren Auftritten stets kontrollierend
neben sich gestanden.
In gewisser Weise stimmt das auch, auf jeden Fall für die ersten
Jahre meiner Karriere. Aber ich konnte mir den Zugang zu den Partien über
den Charakter der Figuren verschaffen, darum haben mich gebrochene Persönlichkeiten
– wie zum Beispiel der erwähnte Benvenuto Cellini – immer mehr interessiert
als „eindimensionale“. Vielleicht auch, weil man sich hinter einem interessanten
Charakter besser „verstecken“ kann. Rollen, bei denen man sich vor allem
selbst zur Schau stellen mußte, gewisse Heldenpartien etwa, lagen
mir nie.
Sie haben aber durchaus auch Spinto- und „Helden“-Partien gesungen,
ich denke an den Arrigo in „I Vespri Siciliani“, an den Lohengrin, an den
Hermann in „Pique Dame“...
Das waren alles Irrtümer. Ich wurde auch zu einigen Dingen
überredet. Wissen Sie, daß mich Karajan und Walter Legge ganz
am Anfang meiner Karriere als Bacchus in ihrer „Ariadne“-Aufnahme wollten?
Ein Wunder hat mich gerettet – ich hatte schon einen Vertrag für Gounods
„Mireille“ mit Cluytens in Aix-en-Provence, Vorstellungen und Aufnahme,
und mußte den beiden absagen. Sie waren wütend. Legge und Karajan
glaubten, ich könnte und sollte alles singen.
Nun hat Karajan aber für Schallplattenaufnahmen öfters
sozusagen mit Spatzen auf Kanonen geschossen und eher nach Stimmfarben
denn nach Fach besetzt, ich denke an Katja Ricciarelli als Turandot. Oder
José Carreras als Radames – was Mario del Monaco zur bekannten Äußerung
verleitete, das wäre nicht „Aida“, sondern „Nemorino in Ägypten“.
Man sagt immer, mit Karajan hätte auch ein Jaquino Otello singen
können, er habe in seiner Klangdisposition so sehr auf die Stimmen
Rücksicht genommen, habe sie „getragen“. Aber darum geht es ja nicht.
Bestimmte Partien brauchen einfach mehr „Raum“ in der Stimme; wenn der
fehlt, merkt man das auch übers Mikrofon. Und ich muß sagen,
daß es Maestro Karajan letztlich gleichgültig war, was mit einer
Stimme danach passierte; es wäre ihm völlig egal gewesen, wenn
ich nach dem Bacchus stimmlich draufgegangen wäre.
Von Maestro Levine wurde ich überredet, den Arrigo zu singen.
„Nicolai“, sagte er, „die ‚Vespri‘ sind ein französischer Verdi. Arrigo
braucht kein Manrico zu sein“. Aber richtig war’s für mich nicht.
Die Partie ist etwas für Domingo, nicht für einen Lyrischen.
Oder der Hermann, den ich ebenfalls an der „Met“ gesungen und auch sehr
gerne gehabt habe – aber die Artillerie für die Finali erster oder
zweiter Akt hatte ich nicht wirklich in der Stimme. Den Arrigo habe ich
sechs-, siebenmal gemacht – beim vierten oder fünften Mal fühlte
ich mich wunderbar, da war die Partie in der Stimme. Trotzdem war mir klar:
Das mache ich nicht mehr. Mit dem Hermann war’s genauso. Man muß
aus Erfahrungen lernen.
Und Palestrina? Und Lohengrin?
Palestrina ist eine schwere, aber eine lyrische, in großen
Zügen nahezu „liedhafte“ Partie. Der junge Wunderlich hat sie in Wien
gesungen, Anfang der sechziger Jahre. Für mich war es ein großes
Erlebnis, sie mit Rafael Kubelik aufnehmen zu dürfen.
Der Lohengrin wiederum stellte für mich einen weiteren Irrtum
dar; daß ich ihn beging, war wieder einmal das Ergebnis von Überredungskunst
– diesmal der Stockholmer Opernleute. „Nicolai, die Stockholmer Oper ist
ja kein großes Theater; und ‚Lohengrin‘ ist doch ein ‚italienischer‘
Wagner, das ist Belcanto. Und Varviso, der Dirigent, ist ein ganz lyrischer“.
Ja, aber man braucht doch die Mittellage für diese Partie – eine Mittellage
mit Durchschlagskraft, die ich so nicht hatte.
Sie bekamen für diese Partie auch ein Angebot nach Bayreuth.
Aber es wurde dann nichts daraus.
Weil ich zur Bedingung machte, daß ich mindestens zwei Tage
Pause zwischen den Vorstellungen haben mußte. Das wollte man mir
nicht versprechen. Da hab‘ ich den Vertrag nicht unterschrieben. Die Wagners
waren wohl böse, und ich hab‘ auch nie wieder ein Angebot aus Bayreuth
bekommen – was mich nicht weiter störte, denn als Wagner-Sänger
wollte ich ohnehin nicht Karriere machen.
Kurz nach meinem Stockholmer Lohengrin nahm ich übrigens den
Belmonte auf, mit Josef Krips. Das wollte ich besonders schön machen
mit diesem ganz großen Mozartdirigenten. Doch es wurde ein Problem.
Irgendwie ging’s, aber es ist nichtmal achtzig Prozent von dem geworden,
was möglich gewesen wäre. Die Stimme war zu schwer nach dem Lohengrin,
steif, unflexibel; ich konnte die nötige Mozart-Leichtigkeit nicht
finden.
Apropos Mozart-Leichtigkeit: Der Pianist Arthur Schnabel pflegte
neuen Schülern Lisztsche Doppeloktaven vorzuspielen und zu sagen,
„das ist leicht“. Und danach ein paar Takte aus einem langsamen Mozart-Satz:
„Das ist schwer“.
Er spricht natürlich von der Interpretation, die freilich auch
mit dem Technischen zusammenhängt. Ich sage das meinen Schülern
stets: „Mozart ist das Maß aller Dinge“. Nehmen Sie die Tamino-Arie:
Sie hat alles, was man technisch und stilistisch braucht. Wenn es gut sein
soll, muß alles stimmen, technisch, von der Phrasierung her. Man
kann sich auch nicht hinter dem Orchester verstecken, sondern steht sozusagen
„nackt“ da. Wenn man diese Arie gut singen kann, kann man fast alles gut
singen.
Jürgen Kesting beschreibt in seinem Buch „Die großen
Sänger“ eine Ihrer ganz großen Stärken: den völlig
idiomatischen Umgang mit dem Wort: „Anders als viele Sänger, die nur
die Lautschrift ihrer Partien lernen, beherrscht Gedda die Sprachen bis
in die feinsten Nuancen der Diktion und Inflektionen des Klanges“.
Es wäre ideal, wenn ein Sänger die Sprachen, in denen
er singt, so beherrscht, daß er darin zu denken vermag, „zwischen
den Zeilen“ lesen kann. Vor allem für den Liedgesang.
Sie hatten ja den Vorteil einer multilingualen Erziehung: In Ihrer
Familie sprach man schwedisch und russisch; als Kind verbrachten Sie einige
Jahre in Leipzig, wo Sie auch vom Deutschen einiges mitbekamen; das Französische
lernten Sie in der Schule.
In Leipzig war ich noch sehr klein, außerdem hatte mein Stiefvater
die Stelle eines Kantors der russisch-orthodoxen Gemeinde; in meiner Umgebung
wurde also hauptsächlich russisch gesprochen. So ist mir der Klang
der deutschen Sprache wohl vertraut, aber ich kann nicht behaupten, daß
ich in diesem Idiom aufgewachsen bin. Das deutsche Lied, beispielsweise,
blieb daher für mich stets schwierig. Es war immer mein Ziel, daran
zu arbeiten; und ich habe bei jeder Aufnahme, die ich machte, Neues für
mich entdeckt. Aber mein Ideal im Bereich des deutschen Liedes ist natürlich
Fischer-Dieskau; oder früher Heinrich Schlusnus. Ich habe auch einen
Nicht-Deutschen sehr bewundert: Aksel Schiötz, den Dänen – was
er aus einem Lied holen konnte, war ein Wunder.
Leider muß ich sagen, daß viele meiner Begleiter mir
nicht wirklich geholfen haben. Erik Werba etwa gab mir sehr wenig Hinweise
zur Interpretation. Ich habe gesagt: „Komm, sag‘ mir doch, wie ich dieses
und jenes gestalten soll“. Er fand alles gut, aber für mich war’s
nicht genug. Auch Gerald Moore hat mir nicht sehr viel gesagt. Um in das
deutsche Lied, die deutsche Poesie wirklich eindringen zu können,
muß man eigentlich schon in der Schule damit anfangen, die Sprache
zu beherrschen und zu durchleuchten.
Es gibt heute zahlreiche junge Sänger., die sich ans Lied
wagen. Auch Sie selbst hatten jung damit angefangen. Andererseits sprachen
Sie aber einmal von einem unbedingt nötigen Reifeprozeß gerade
beim Liedgesang.
Nehmen wir ein Beispiel, vielleicht Schuberts „Nacht und Träume“,
ein Lied, das ich sehr gerne singe. Man kann es quasi als eine Gesangsübung
machen, ganz Legato, à la Belcanto, aber es geht nicht darum. Das
Schwere ist, Farben zu bekommen, die richtigen Emotionen, nicht zu wenig,
nicht zu viel. Daran muß man jahrelang arbeiten. Jahrzehntelang.
Als junger Liedsänger habe ich zuerst immer zu viel machen
wollen. Als mir dann jemand sagte, das sei Oper, habe ich Angst bekommen
vor der Übertreibung, habe mich zurückgenommen. Die Grenze zwischen
dem, was man darf und was nicht, ist ja ganz schmal. Das ist so schwer,
da muß man künstlerisch reifer werden. Ich sage den Jungen immer:
„Du brauchst zwanzig Jahre, um deine Gesangstechnik wirklich zu bemeistern.
Und dann sind es noch dreißig Jahre, um auch künstlerisch völlig
zu reifen...“ Dann aber ist es mit der Stimme meist vorbei. Sehen Sie –
so schwer ist das ...