|
So wie der Künstler, wo er rühren
soll, nicht selber gerührt werden darf – soll er nicht die Herrschaft
über seine Mittel im gegebenen Augenblicke einbüßen -,
so darf auch der Zuschauer, will er die theatralische Wirkung kosten, diese
niemals für die Wirklichkeit ansehen, soll nicht der künstlerische
Genuß zur menschlichen Teilnahme herabsinken. Der Darsteller spiele,
er erlebe nicht. Der Zuschauer bleibe ungläubig und dadurch ungehindert
im geistigen Empfinden und Feinschmecken.
Ferruccio Busoni, „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ |
Nachdem Nicolai Gedda, 1925 in
Stockholm als Sohn eines russischen Kantors und einer Schwedin geboren,
im April 1982 an einer konzertanten Aufführung von Peter Tschaikowskys
Iolanta teilgenommen hatte – sicher der Beweis mille e tre für seine
Vielseitigkeit –, schrieb Peter G. Davis im New York Magazine: „Eben da
es scheint, daß seine Karriere zu Ende geht, kehrt Gedda zurück
und verblüfft uns alle mit einer neuerlichen Demonstration hinreißender
Vokalkunst. Das einschmeichelnd weiche Timbre seiner Stimme, die exquisit
modulierten Mezzavoce-Effekte, die aristokratische Eleganz der Phrasierung
– all das ist noch immer vorhanden.“
Vorhanden nach einer dreißigjährigen Karriere,
nach der bei den meisten nicht einmal mehr schöne Reste bleiben. Der
Architekt auch dieser Laufbahn war der englische Produzent Walter Legge,
der den jungen Gedda 1952 in Stockholm traf und ihn gleich für die
Aufnahme von Boris Godunow unter Issay Dobrowen verpflichtete, einen Anfänger,
der soeben als Chapelou in Adams Le Postillon de Lonjumeau debütiert
hatte. Die feinschimmernde, silbrig helle, fast androgyne Stimme des 27jährigen
ist, unter anderem mit der Chapelou-Arie, auf einer schwedischen Odeon-Platte
zu hören. Irving Kolodin beschrieb sie nach der Boris-Aufnahme von
1952: „Süß und von durchdringender Intensität, voll ausgebildet
und auf dem Atem getragen ... Gedda artikuliert den russischen Text besser
als jeder andere im Ensemble.“
Gedda war durch seine Eltern zweisprachig aufgewachsen,
hatte durch die Tätigkeit seines Vaters an der russisch-orthodoxen
Kirche in Leipzig auch Deutsch gelernt, mit fünf Jahren Klavierunterricht
erhalten und schon früh in einem Quartett gesungen. Auf der Schule
lernte er Latein und Englisch, später beim Verfolg seiner Sängerlaufbahn
auch Italienisch, Französisch und Spanisch. Anders als viele Sänger,
die nur die Lautschrift ihrer Partien lernen, beherrscht er die Sprachen
bis in die feinsten Nuancen der Diktion und Inflektionen des Klangs. So
konnte er am 1. November 1957 mit dem (französischen) Faust an der
Met debütieren, wenig später den (italienischen) Ottavio folgen
lassen und am 15. Januar 1958 bei der Premiere von Samuel Barbers Vanessa
nach Kolodins Met-Chronik seine amerikanischen Kollegen – darunter Eleanor
Steber und Rosalind Elias – ausstechen. So gründlich und umfassend
beschäftigte der Schwede sich mit Lautformung und Sprachklang, daß
Kolodin feststellte: „Geddas Anstrengungen zielen auf die Lösung von
Problemen; die der meisten Sänger auf deren Umgehung.“
Die Stimme Geddas war von Carl Martin Oehmann (der später
auch Martti Talvela unterrichtete) entdeckt und eine Zeitlang ausgebildet
worden. Durch den ersten Preis beim „Christine-Nilsson-Wettbewerb“ konnte
er die Anstellung bei einer Bank auf einen Halbtags-Job reduzieren. Am
8. April 1952 gab er sein Debüt, zwei Jahre später debütierte
er an der Pariser Opéra in Oberon, was die Einladung zu den Aufnahmen
von Faust und Mireille unter André Cluytens nach sich zog. Schon
1953 hat er unter Herbert von Karajan Ottavio an der Mailänder Scala
gesungen, 1954 stellte er sich in Rom (Ottavio), Wien (Don José)
und London vor. In London und Wien nahm er unter Otto Ackermann und Herbert
von Karajan die großen, klassischen Wiener Operette auf – durch ihn
und Elisabeth Schwarzkopf eine Apotheose des leichten Genres, weil die
Beteiligten es nicht leicht genommen haben. Kolodin stand nicht an zu sagen,
daß er Geddas Sou Chong noch mehr bewundere als den Orphée
– er hat ihn in der Tat mit berückendem Charme gesungen. Neben Maria
Callas nahm er Il Turco in Italia und Madama Butterfly (unter Karajan)
auf – und schon bald wuchs sein Rollenzettel so rasch wie Leporellos Register.
Doch war er bei der Rollenwahl und Ausführung nicht so wahllos wie
der Don. Noch einmal Kolodin: „Die bloße Aufzählung der Rollen,
die Gedda (nach den drei bereits aufgeführten) an der Met gesungen
hat, qualifiziert ihn als einzigartig. Ihre Chronologie lautet (I, E und
F stehen für italienisch, englisch und französisch): Sänger
im Rosenkavalier (I), Hoffmann in Les Contes d’Hoffmann (F), Tamino in
Die Zauberflöte (E), Lensky in Eugen Onegin (E), Des Grieux in Manon
(F), Barinkay in Der Zigeunerbaron (E), Alfredo in La Traviata (I), Admetus
in Alceste (E), Dimitri in Boris Godunow (E), Pinkerton in Madama Butterfly
(I), Nemorino in L’Elisir d’Amore (I), Pelléas in Pelléas
et Mélisande (F), Kodanal in The last savage (E), Herzog in Rigoletto
(I), Don José in Carmen (F), Roméo in Roméo et Juliette
(F), Edgardo in Lucia di Lammermoor (I), Rodolfo in La Bohème (I),
Arrigo in I Vespri Siciliani (I), und Riccardo in Un Ballo in Maschera
(I).“
Zu ergänzen sind zahlreiche andere Rollen, um
die viele Tenöre auf Grund von deren Schwierigkeiten einen großen
Bogen machen: 1955 etwa sang der Schwede den Gluckschen Orphèe in
der originalen Tenorfassung (Paris, 1774) und dazu, anders als der klanglich
noch opulenter und zaubrischer singende und auch subtiler phrasierende
Leopold Simoneau unter Hans Rosbaud, in der originalen Tonhöhe. Nur
die Bravour-Ariette „L’espoir renaît“ (Akt I, iii, Nr. 14) ist ausgelassen.
Ist Gedda vielleicht kein so persönlicher und bewegender Orphée
wie sein kanadischer Kollege, so bewältigt er geradezu transzendentale
Schwierigkeiten mit einer Anmut, Leichtigkeit und technischen Virtuosität,
die ihresgleichen suchen.
Auch Rousseaus Le Devin du Village und Rameaus Platée,
Cornelius‘ Der Barbier von Bagdad und Bizets Les Pêcheurs de Perles,
Berlioz‘ Benvenuto Cellini und La Damnation de Faust, Tschaikowskys Iolanta,
Eugen Onegin und Pique Dame, Glinkas Ein Leben für den Zaren und die
deutschen Spielopern gehören zum Repertoire Geddas, der mehr Raritäten
im Angebot hat, als beispielsweise, Pavarotti Hauptrollen. Entscheidend
dabei, daß Gedda nicht nur eine Stimme für seine vielen Rollen
einsetzte, sondern fast immer zur Stimme der Musik wurde, die er sang –
was nicht ausschließt, daß auch er schwächere Momente
hatte oder sich dazu herließ, etliche musikalische „Untiefen zu durchwaten“
(Ulrich Schreiber), wie die späteren Operetten-Produktionen, in den
das Leichte als das Gefällige an- und damit hingerichtet wurde. Er
hat zudem zu lange aufgenommen – noch in einer Zeit, da die Stimme ihre
feine Perlmutt-Glätte verloren hatte und der Klang sauer geworden
war.
Das muß differenziert werden. Wie ein Gesicht
kann die Stimme mit einem unterschiedlichen Ausdruck altern. Sie kann durchaus
eindrucksvolle Altersfalten bekommen. Die Stimme von Jon Vickers etwas,
nie recht rein und in den Aufnahmen von Carmen (unter Frühbeck de
Burgos), Tristan (unter von Karajan) oder vor allem von Otello (unter von
Karajan) oft rissig und bresthaft, blieb zumindest ein ungemein expressives
Instrument; die Stimme von Benjamino Gigli war, auch als der Klang einzutrocknen
begann, resonatorisch intakt; die Stimme Mario del Monacos hingegen verlor
ihre eherne Intensität und dunkle Bronzetönung und nahm – besonders
kraß zu hören in dem von Anton Guadagno dirigierten Recital
„Mario del Monaco sings Verdi“ – durch künstliche Aufhellung eine
grell-verquetschte Tönung an; die von Giuseppe di Stefano verlor durch
zu viel „wear and tear“ an Spannung (auch im erotischen Sinne) und wurde
schlaff wie ein greises Baby-Gesicht.
Geddas Stimme war nie ein sinnlich-erotisches, sondern
ein keusches Instrument. Ihr Zauber lag in ihrer Feinheit und Reinheit.
Durch das Altern hat sie stärker gelitten als viele andere Stimmen,
und dies wird durch den Röntgenblick des Mikrophons genauer diagnostiziert,
als der Hörer im Konzertsaal oder Opernhaus es kann – im Raum klingt
die Stimme konzentrierter und versammelter als bei einer direkten Aufnahme.
Mit Rücksicht auf diese Tatsache hat etwa Birgit Nilsson nach 1975
keine (oder kaum noch) Platten gemacht.
Die Stimme des jungen Gedda war ungemein schlank und
licht, ihr Klang dominiert von den hell-glänzenden Acuti und auf Grund
der Maskenresonanz geringfügig nasalen Tönen der Mittelstimme,
die oft nicht recht nach vorn kommen und auf dunklen Vokalen matt sind.
Ihr Volumen war gering, die Durchschlagskraft nicht groß, die Tragfähigkeit
hingegen gut, der Umfang außergewöhnlich. Gedda ist, weil nie
forcierend, der Gefahr der „Überbrustung“ (Martienssen-Lohmann) und
der Versteifung entgangen. Mit einer Mühelosigkeit (nicht Stimmkraft!),
die an Leon Escalais erinnert, attackierte er in Glinkas Ein Leben für
den Zaren (Aufnahme unter Igor Markewitsch, 1957) als Sobinin die vielen
hohen C’s der Arie „Brüder, im Sturm“, und im Mittelteil sang er mit
seiner exquisit changierenden Voix mixte sogar das Des (später hat
er das, mit noch mehr Verve, in einem Recital unter Gika Zdrawkowitsch
– seiner vielleicht besten Einzelplatte – wiederholt). Diese Voix mixte
setzte er, mit wundervollen, changierenden Farben für die a-moll Arie
des Nadir „Je crois entendre encore“ ein. Auch hier muß er nicht,
wie Leonid Sobinow, Dimitri Smirnow, Enrico Caruso und Benjamino Gigli,
nach As oder, wie viele andere, nach g-moll transponieren – er kann die
Stimme in der furchterregenden Tessitura mit den Bögen bis zum H strömen
lassen und selbst das hohe C mit perfekt fokussierter Voix mixte pflücken
wie eine reife Frucht. Eine ähnlich schöne, freilich italienische
Darbietung hat Carlo Dani (1906) hinterlassen; die vielgerühmte Aufnahme
Benjamino Giglis hingegen, gesungen mit einer honigsüßen Mezzavoce,
macht Bizet zum sizilianischen Ehrenbürger. Den Enthusiasmus Lord
Harewoods für diese Aufnahme wie für die Placido Domingos (unter
Giulini) vermag der Verfasser nicht zu teilen. Wie imponierend es auch
ist, daß Domingos Radames-Stimme die hohe Tessitura dieser für
einen hellen französischen Tenor geschriebenen Musik bewältigt,
so wirkt der Klang manipuliert und synthetisch wie ein Hollywood-Gesicht
unter einem Weichzeichner.
Die Vokalpartien der französischen Komponisten
des 19. Jahrhunderts – Gounod, Massenet, Meyerbeer, Bizet und Saint-Saëns
– verlangen, entsprechend der französischen Opernästhetik, vom
Interpreten die vollkommene Balance von Wort und Musik. Es gibt nicht die
Dominanz des Vokalismus wie im Canto fiorito, aber die Linie muß
mit einem perfekt-schönen Ton gebildet werden, belebt durch die Aussprache
der Vokale und artikuliert durch die Konsonanten – erinnert sei an Gounods
Formel, daß Artikulation für Form und Aussprache für Eloquenz
sorgt. Flüssige Linienbildung setzt makellosen Registerwechsel voraus.
Die Tongebung darf nicht durch die negativen Charakteristika der Sprache
– Nasalität oder eng-eckige, säuerliche Klanggebung – affiziert
werden. Schon Guillaume Ibos, der erste Sänger von Massenets Werther,
schrieb in seinen „Souvenirs“: „Ich hörte Werther unzählige Male
mit allen populären Interpreten. Ich kann nur mit allem Nachdruck
feststellen, daß der Ausdruck des Gefühls ... vollkommen verfälscht
worden ist und nicht dem entspricht, was Massenet stilistisch von seinen
Interpreten erwartete. Zu leicht wird vergessen, daß das ganze Stück
gewoben ist aus Gefühlen – intensiven, aber aus dem Inneren kommenden
Gefühlen. Aber meist wird zu viel Lärm gemacht, fehlt es an Empfindung,
an der Vielfalt der Nuancen. Es gibt zu wenig Musik.“
In dieser ästhetischen Maxime steht die deutliche
Absage an den emphatisch-rhetorischen Vortrag, mit dem etwa Franco Corelli
den Roméo oder Placido Domingo und José Carerras den Werther
zu Figuren des expressionistischen Theaters machen. Die Balance von Musik
und Wort trifft Gedda besser und genauer als alle seine Confrères
im französischen Fach. Seine Interpretation des Hoffmann erreicht,
trotz einiger manieristischer Momente von Über-Studiertheit, die Verve
von Raoul Jobin und die Eleganz von Léopold Simoneau. Als Don José
(unter Sir Thomas Beecham, 1958/59) distanziert er del Monaco, Corelli,
Vickers, McCracken, Bilbert Py, Domingo und Carerras, und auch als Faust,
Werther oder Des Grieux (Massenet) hat er keine Konkurrenz – was für
ihn und noch mehr gegen seine Rivalen spricht. Denn Gedda erreicht durchaus
nicht in all diesen Rollen jenes Niveau, das seine kritische Akte – jedenfalls
in deutscher Sprache abgefaßte – vorspiegelt.
Gedda zeigt sich zwar fast immer als Meister der sprachlichen
Nuancierung, zuweilen aber auf Kosten einer wirklich freien Tonemission.
Wenn er, beispielsweise, Werthers „Pourquoi me reveiller?“ singt, so liebkost
er die Phrasen nicht so behutsam, wie es einst Tito Schipa tat, und die
Emphase des Vortrags affiziert die Tongebung. Das gilt auch für Des
Grieux‘ „Ah! Fuyez, douce image“ aus Manon, wo der Klang ungewohnt scharfe
Kanten bekommt. Mehr als kompensiert wird dies durch den subtilen Vortrag
der Traumerzählung. Nicht der Sänger singt, es singt aus ihm
mit einem ganz behutsamen, innerlichen Klang. Und selbst wenn er in den
beiden Massenet-Partien die dramatischen Höhepunkte emphatisch – zu
emphatisch – heraushebt, ist er seinen Kollegen Domingo, Carerras und Kraus
(dessen Werther mißlungen ist) beträchtlich überlegen.
Nicht anders sind die beiden Aufnahmen unter Richard Bonynge mit dem unidiomatisch
und exzessive Portamenti singenden Franco Corelli oder unter Alain Lombard
mit Giacomo Aragall und Georges Prêtre mit Placido Domingo. Vergleicht
man Gedda mit diesen Sängern, so hat man abzuwägen zwischen musikalischer
Genauigkeit und feiner Diktion bei dem Schweden und der Fähigkeit
der anderen, die Stimmen bei den Übergängen in die hohe Lage
wirklich entfalten zu können. Doch erst mit Georges Thill, César
Vezzani, John McCormack, Jussi Björling, dem Amerikaner Eugene Conley
und dem Russen Iwan Kozlowsky hört man richtige Faust-Stimmen. Gedda
hat vielleicht der Kantilene lyrisch gerecht werden können, doch für
die Eröffnungsszene fehlte es ihm damals an deklamatorischer Kraft,
und in den heikel-hoch liegenden dramatischen Passagen des Duell-Trios
war er einfach überfordert: mit der Folge, daß die Stimme des
öfteren ihr eigentliches Klangzentrum verliert. Dies ist auch in der
zweiten Carmen-Aufnahme mit Maria Callas (unter Prêtre) zu erleben:
„Te revoir, o Carmen!“ singt Gedda so emphatisch und pathetisch, daß
es den Ton förmlich schüttelt – was zwar ein Zeichen von Bewegtheit,
keineswegs aber bewegend ist. Kein Zweifel aber, daß der Schwede
nicht nur mit weitem Abstand der beste Sänger des Serganten in allen
Stereo-Aufnahmen ist, sondern auch den Vergleich mit Georges Thill, Affre,
Jobin und anderen französischen Sängern aushält. Vor allem
in der von Beecham mit unvergleichlich lapidarer Verve dirigierten Aufnahme
ist er herausragend.
Einige wichtige Rollen des französischen Repertoires
hat er spät aufgenommen, vielleicht zu spät. Das gilt vor allem
für Berlioz‘ La damnation de Faust unter Colin Davis mit dem zeitweise
wenig inspiriert musizierenden London Symphony Orchestra. Es wird kaum
in seiner Absicht gelegen haben, daß er zu Beginn tatsächlich
wie ein ältlicher Professor vor dem l’elisir d’amore klingt. Aber
im Duett singt er das Cis einmal mehr mit unvergleichlicher Voix mixte,
und wenn auch Domingo „Nature immense“ klanglich opulenter und erregender
singt, Gedda ist der Musik Berlioz‘ in jedem Betracht näher. Was hätte
sein können, deutet der Querschnitt von 1960 unter Cluytens mit Gérard
Souzay als elegantem Teufelchen und Rita Gorr als sinnlichem Gretchen an.
Schon 1961 hatte der Schwede – „Gedda à Paris“
– unter Prêtre zwei Szenen aus Berlioz‘ Benvenuto Cellini gesungen:
„La gloire était ma seule idole“ und „Sur les monts“ (das zweite
Stück im Mittelteil gekürzt), ideal in der Balance von Musik
und Wort. Obwohl er die verschiedenen hellen und dunklen Nasallaute – etwa
bei „mes sombres destins“ oder „je chanterais gaiment. Ah, libre et tranquille“,
letztere wunderbar in ihrer Bindung – so korrekt bildet wie ein Schauspieler
der Académie, entsteht nie der Eindruck verquetschter Nasalität.
In der Gesamtaufnahme unter Davis (1972) ist die Stimme nicht mehr ganz
so frisch, doch eindringlicher und charakteristischer ist Gedda selten
zu hören. Die Produktion gehört insgesamt zu den besten Opernaufnahmen
nach dem Krieg – und Gedda ist der überragende Mittelpunkt des glänzend
studierten Ensembles, feurig in den dramatischen Szenen, sensibel und elegisch
in den weitgespannten Kantilenen. Auch eines der seltenen akustischen Porträts,
die auf der Klangbühne zu leben beginnen.
Es sind vor allem die kleinen Dinge, die an den Aufnahmen
Geddas entzücken. Der Sänger des Hoffmann muß noch geboren
werden, der die Ballade vom Kleinzack mit einer ähnlich ausgepichten
Dramaturgie der Kontraste vorzutragen versteht. Die drei strophischen Abschnitte
gestaltet er als Balladen-Erzähler von außen. So dramatisiert
er vor seinen Zuhörern, den Studenten in Luthers Berliner Weinkeller,
die Figur des buckligen Zwerges, klangmalerisch dessen Torkeln und Taumeln
umsetzend: „flick flack“ und „krick krack“ werden zu Gebärden. Aber
nach der zweiten Strophe verliert sich der Erzähler durch seine Gefühlsassoziationen
an das Erzählte. Er berichtet nicht länger von etwas, sondern
wird eingeholt und erleidet träumend noch einmal die Schmerzen der
Liebesaffaire. Der Verfasser hat zum Vergleich die Aufnahmen von Gaston
Micheletti, Giacomo Lauri-Volpi, Richard Tauber, Marcel Wittrisch, Rudolf
Schock, Peter Anders, Raoul Jobin, Richard Tucker, Leopold Simoneau, Placido
Domingo, Stuart Burrows, Siegfried Jerusalem, Sandor Konya, Walther Ludwig,
Waldemar Kmentt gehört – eine auch nur annähernd so intelligent-nuancierte
ist nicht darunter.
Noch eindringlicher ist es, wenn man Nuancierung als
Prozeß der sängerischen Entwicklung erlebt. Chapelous „Mes amis,
écoutez l’histoire“ hat der Schwede dreimal gesungen: 1952 in einer
anmutigen Jugendaufnahme mit einem schönen, aber eher zarten hohen
D; sodann im
Recital unter Georges Prêtre und schließlich im
Juni 1965, in deutscher Sprache für einen Querschnitt. Wichtiger als
der Zuwachs an stimmlicher Kraft und Pracht ist die Ausfeilung des Vortrags.
Gedda singt die balladeske Arie nicht um des hohen D willen, obwohl er
so singt, daß viele Kollegen ihn ob dieses D beneiden müssen.
Wichtiger ist eine unnachahmliche Kunst des gestischen Singens aus der
Perspektive eines Erzählers, der im Klang einen Vorgang beschwört.
Wenn der Erzähler in der dritten Strophe berichtet, der Postillon
sei eines Abends hinweggeeilt und von einer Königin auf einer einsamen
Insel zum König ernannt worden, so lacht der Vortragende über
das Erzählte als Märchen – und er lacht mit dem Klang der Stimme.
Nach dem Krieg dürfte Gedda der einzige Tenor sein,
der die Musik Gioacomo Meyerbeers idiomatisch und zugleich mit aristokratischer
Eleganz und großer Bravour gesungen hat. Von Wagner mit dem Scharfblick
des Hasses als „Wirkung ohne Ursache“ diffamiert, hat die Musik des größten
Vertreters der Grande manière hierzulande nie eine Chance für
ihre Renaissance bekommen. Um sie adäquat zu hören, muß
man zwei, drei Generationen zurückgehen zu den Platten von Ernestine
Schumann-Heink, Hermann Jadlowker, Leo Slezak (der Raouls „Plus blanche“
achtmal aufgenommen hat), Pol Plançon, Selma Kurz, Agustarello Affre
und, last but not least, zu Margarete Teschemacher und Marcel Wittrisch,
die das (leider stark gekürzte) Liebesduett grandios singen. Sie werden
überboten von Gedda und Enriqueta Tarrès in der Live-Aufnahme
unter Ernst Märzendorfer (Wien 1971), die der Studio-Produktion unter
Bonynge ebenso vorzuziehen ist wie dem (gekürzten) Scala-Mitschnitt
unter Gavazzeni von 1962 mit Franco Corelli, der den Raoul mit Radames
oder Canio verwechselt, einer unter Form singenden Joan Sutherland, einer
den Pagen grotesk verfehlenden Fiorenza Cossotto und einem blökenden
Marcel (Nicolai Ghiaurow). Ausdrücklich zu warnen ist vor einem Cetra-Mitschnitt
unter Serafin, der den Ruf von Giacomo Lauri-Volpi zu ruinieren vermöchte.
Gedda singt Raoul meisterhaft, trotz nicht immer frischer Stimme mit exemplarischer
Phrasierung und einer raffinierten Tongebung. Das changierende Spiel der
Mezzavoce in der extremen Tessitura des Duetts verrät nicht nur technische
Meisterschaft: Es hat den Glanz des Vollkommenen und macht es unverständlich,
warum für die Gesamtaufnahme unter Bonynge der Grieche Anastasios
Vrenios aufgeboten wurde – der in die Stiefel der Rolle paßt wie
der Kater aus dem Märchen.
In einer weiteren Rolle der Grand opéra überragt
Gedda seine Rivalen: als Arnold in Rossinis Guillaume Tell. Vor allem in
dem von Alain Lombard dirigierten Querschnitt verbindet Gedda Eleganz und
Eloquenz der Phrasierung mit einer fast auftrumpfenden Strahlkraft – es
dürfte wenige vergleichbar ausgefeilte Aufnahmen von „Asil héreditaire“
geben. Im Duett „Ah, Mathilde“ wird er durch Ernest Blanc auf den – dies
ist wörtlich gemeint – rauhen Boden der Wirklichkeit geholt. Obwohl
er in der Gesamtaufnahme unter Lamberto Gardelli weniger frisch ist, sticht
er, was sprachliche Nuancierung, musikalische Genauigkeit und wohlgegliederte
Phrasierung angeht, nicht nur den groben Mario Filippeschi aus, sondern
auch den zumindest in der Arie, im Duett und Terzett forcierenden Pavarotti.
Als Legge den jungen Gedda entdeckte, telegraphierte
er an Herbert von Karajan wie an Scala-Chef Ghiringelli: „Habe soeben den
größten Mozart-Sänger meines Lebens gehört. Name ist
Nicolai Gedda.“ Die Platten lösen das Lob nicht immer ein. Zwar kann
Gedda makellos phrasieren und musikalische Bögen bilden, aber als
Ottavio in Otto Klemperers Aufnahme von Don Giovanni singt er so exaltiert,
daß er während der ersten Arie „Dalla sua pace“ ständig
falsch intoniert, und auch „Il mio tesoro“ hat wenig Fluß und Bindung;
der Ton ist unstet, das Timing ausgesprochen ungelenk. In der von Hans
Rosbaud betreuten Aufführung in Aix-en-Provence (1956) singt er technisch
korrekt, klingt aber ziemlich desinteressiert. Als Tamino – wieder unter
Klemperer – verzauberte er nicht, wie Fritz Wunderlich unter Böhm
und auch Stuart Burrows unter Georg Solti, durch Verve, lyrische Intensität
und jugendlich-strahlende Klangschönheit, beeindruckt indes durch
ausgefeilte Phrasierung und makellose Diktion. Wie die Bildnis-Arie hätte
klingen können, hat er im Recital unter Heinrich Bender gezeigt, leider
mit problematischer Betonung des auftaktigen „Ich“ statt der Betonung auf
„fühl“ – ein Fehler, der Fritz Busch in Harnisch brachte.
Als einer der wenigen Tenöre beherrscht Gedda die
Anwendung von Appoggiaturen, während seine Koloraturtechnik nicht
immer zuverlässig ist. Sowohl in „Fuor del mar“ (im Recital unter
Hans Rosbaud in der schweren ersten, unter Schmidt-Isserstedt in der zweiten
Version) als auch in Titos „Se all’impero“ sind irritierend unsicher intonierte
Laufpassagen zu hören – hier wird er von Léopold Simoneau,
Stuart Burrows oder Werner Hollweg deutlich übertroffen. Auch als
Belmonte überzeugt er in den Koloraturen nicht, und läßt
überdies „Ich baue ganz auf deine Stärke“ ganz aus (Wunderlich,
Schreier und Burrows haben das Teststück überzeugend gesungen),
und als Ferrando unter Colin Davis klingt er so, wie ein Mozart-Tenor nie
klingen darf: müde und gestreßt.
Möglich, daß die Tugenden des Mozart-Sängers
Gedda im deutschen Repertoire besser zum Tragen, zum Klingen kommen. Den
Versuch mit der Arie des Florestan – die am besten nicht von dramatischen,
sondern lyrischen Tenören gesungen worden ist: von Patzak, Erb, Dermota
– hat Gedda bestanden, ohne wirklich zu beeindrucken, geschweige denn zu
rühren, gerade weil er zu rühren versucht. Das extravertierte
Pathos führt zu einer unkonzentrierten Tongebung, und der Poco-allegro-Teil
ist unsicher. Die instrumental konzipierten Hüon-Arien mit ihren unvokalischen
Intervallen hat nicht einmal Rosvaenge so glänzend gesungen wie der
Schwede, und ob im Nachkriegs-Bayreuth Gralserzählung und „Mein lieber
Schwan“ je so schön, so entrückt zu hören waren, ist unwahrscheinlich.
Wobei nicht verschwiegen werden darf, daß Gedda den Lohengrin nur
einmal in Stockholm auf der Bühne gesungen und dann als zu schwer
für seine Stimme befunden hat.
Ausgesprochen enttäuschend die Aufnahme von Martha,
in der Gedda sentimental und gekünstelt klingt, vor allem in den einst
von Caruso unvergleichlich musizierten Ensembles, und weit unter seinem
Niveau ein großer Teil der Operettenaufnahmen aus den späten
sechziger und siebziger Jahren. Desmond Shawe-Taylor hat einmal gesagt,
daß Gedda „nie wirklich schlecht singt“, aber in den meisten italienischen
Opern hören wir ihn nicht at his best. Am überzeugendsten singt
er in Verdis Requiem unter Carlo Maria Giulini – mit konzentrierter Tonentfaltung
bei „Requiem aeternam“, wundervoll schlanker, konzentrierter und
gebundener Tongebung im „Ingemisco“ – ohne jedwede Aspirierungen, wo ein
Gigli „ehehet latrohonem“ singt – und flutender Mezzavoce im „Hostias“,
wo er überdies einen herrlichen Triller auf „absolvisti“ bildet. Als
Herzog und Alfredo überzeugt er den Verfasser ebensowenig wie als
Nemorino: Er singt musikalisch, genau, sorgfältig, aber ohne Sonne
im Klang und mit nur wenig Charme und Sinnlichkeit. Die Tenorpartie in
Il Barbiere di Siviglia promoviert er gleichsam zum Professor Dr. Almaviva:
Er führt die Fiorituren und Triller, Gruppetti und andere Ornamente
vor wie Andenken hinter Glas. Sie wirken, auch durch die trockene und angestrengte
Tongebung, wie erstarrt – ein Vergnügen nur für den, der Rossini
als einen kompositorischen Mechanikus verachtet. Als kompetenter, indes
nicht eleganter Belcantist bewährt sich Gedda in einem Duett-Recital
mit Mirella Freni (Szenen aus La Sonnambula, Lucia di Lammermoor, L’Elisir
d’Amore), während er die Schlußszene des Edgardo „Tombe degl’avi
miei – Frau poco a me ricovero“ so elegant wie eloquent und strahlend darbietet:
eine Lektion für di Stefano, Domingo und Pavarotti.
Auf eigenes Terrain kommt Gedda wieder in der russischen
Oper. Seit Leonid Sobinow (1910) ist die Arie des Lenski nicht so vollkommen
gesungen worden wie von Gedda, mit verhangen elegischer Tongebung, sprechender
Artikulation und einer unvergleichlich abgetönten Reprise. Das Recital
unter Gika Zdrawkowitsch – mit der Wiederholung der Sobinin-Arie und der
Szene „Der schlaue Jesuit hielt mich fest“, die im Boris unter Dobrowen
ausgelassen worden war – ist vielleicht Geddas beste Einzelplatte. Wäre
Glinkas „Brüder im Sturm“ an dem Tage aufgenommen worden wie Meyerbeers
„Sicilienne“ aus Robert le Diable durch Escalais – die Aufnahme rechnete
zu den berühmtesten Sammlerstücken.