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Nicolai Gedda - Chronologie einer Opernkarriere von Michael Stember

 Vom Postillon zum Priester 2. Spezialist für schwierige Partien (1954-1960) 


1. Ein Tenor für die Welt (1951-1954)

Natürlich war ich überglücklich!“. So beschreibt Nicolai Gedda in seiner Autobiographie seinen ersten Eindruck, als ihm im Herbst 1951 von der Leitung der Königlichen Oper in Stockholm die Hauptrolle in einer Neuinszenierung von Les Postillon du Lonjumeau angetragen wurde. Gedda wertete diese Entscheidung als ein verständliches Risiko für den Hofkapellmeister Kurt Bendix und für den 1. Regisseur, Ragnar Hyltén-Cavallius. Seine Partnerin war Hjördis Schymberg, bereits 43jährig, als Madame de Latour. Schymberg hatte an der Stockholmer Oper eine große Karriere gemacht und gemeinsam mit Jussi Björling den Schweden unvergessliche Aufführungen geschenkt. Wie Gedda weiter beschreibt, verlief alles bestens und sein Lehrer, Carl Martin Öhmann, sprach von einem Traumdebüt!  Auch das Publikum war begeistert und die Zeitungen feierten andertags mit guten Kritiken den neuen, jungen Tenor der Königlichen Oper. Der andere Tenorliebling der Schweden, Jussi Björling, befand sich zu dieser Zeit übrigens in New York und sang an der Metropolitan Opera in Verdis Don Carlo. Jahrzehnte danach erzählt Gedda dem Intendanten der Bayerischen Staatsoper, Prof. August Everding, wie sehr er sich während der Proben geschämt habe, da er immer ein introvertierter Mensch gewesen sei.

  Nach dem Postillon bewegte sich Gedda aber weiterhin durch die Gefilde tenoraler Nebenrollen, so gab er den Sänger in Strauss´ Rosenkavalier, und in Les Contes d´Hoffmann die Randfigur Nicklaus. Erst Wochen später führte das Schicksal die Sängerin Elisabeth Schwarzkopf und ihren Mann, den mächtigen Produzenten der EMI, Walter Legge, nach Stockholm. Schwarzkopf gab einen Liederabend und Legge sperrte seine Ohren auf, weil er für seine geplante Schallplattenaufnahme von Boris Godunow noch einige Sänger benötigte, die russisch sprachen. Gedda, als Sohn russischer Zieheltern bilingual aufgewachsen, schien prädestiniert. Durch Vermittlung eines Dirigenten kam es zu einem Vorsingen, und Gedda befand sich unter den Ersten der fast 80 Aspiranten. Er bot die Blumenarie und sang die letzte Note zu laut. Dazu Legge: „Ich erklärte ihm, was ich hören wollte, den Schwellton, das Diminuendi und anderes. Dann sagte ich: Singen Sie es noch mal! Er wiederholte das Stück, sang so schön wie nie zuvor und den Schluß exakt so, wie ich es hatte hören wollen.“ Er sang auch die beiden Arien des Ottavio aus Don Giovanni. Mit Legges Worten „schöner, als ich sie je gehört hatte, ausgenommen von Richard Tauber und der Platte von John McCormack.“ Walter Legge ließ den jungen, hochgewachsenen Tenor einen Vertrag unterzeichnen und prophezeite, daß in ein paar Jahren die ganze Welt von ihm sprechen werde. Zumindest Legge berichtete eifrig von Gedda. Sein Telegramm an Scala-Chef Giringhelli ist Geschichte: „Hörte heute den größten Mozart-Tenor meines Lebens. Name ist Nicolai Gedda!“. Dank seiner weitreichenden Beziehungen erhielt Gedda noch vor der Aufnahme zum Boris in Paris bereits eine Einladung zum Vorsingen an die Mailänder Scala. Herbert von Karajan hatte mit Legge gesprochen und nun den künstlerischen Leiter des Hauses zu diesem Termin überreden können. Das Vorsingen endete mit einem Vertrag für Don Giovanni und Orffs Trionfo di Afrodite, zwei Werke, die im Januar und Februar 1953 an der Scala aufgeführt werden sollten. Doch Karajan wünschte noch vor diesem Termin eine Zusammenarbeit, er wollte sich nicht blamieren. So kam es bereits am 20. Dezember 1952 in Rom zu einer konzertanten Aufführung für den Rundfunksender RAI von Strawinskys Oedipus Rex.

  Die Aufnahmen in Paris zum Boris verliefen ohne Zwischenfälle, sieht man einmal ab von einer überstürzten Blitzverlobung Geddas mit einem russischen Emigrantenmädchen aus dem Chor. Mit ihr hatte Gedda eine Affaire begonnen. Nun drängten die Eltern des Mädchens auf eine baldige Heirat. Am 1. Juli gab Gedda ein Konzert, und vom 7. bis zum 21. Juli 1952 wurde der Boris aufgenommen. Bevor Gedda wirklich begriff, wie ihm geschah, hatte er ein Eheversprechen geleistet. Peinlicherweise kam bei der Hochzeit am 5. Juli des Folgejahres auch das Geheimnis um Geddas wahre Eltern ans Tageslicht. Als seine eigentlichen Eltern hat Gedda immer seine Zieheltern Olga Gädda und Michail Ustinoff angesehen, biologisch gesehen seine Tante und sein Onkel. Seine leiblichen Eltern, Clary Linnea Lindberg und ihr Verlobter, Nikolaj Gädda, hatten ihn wegen der Schmach einer außerehelichen Niederkunft und aus finanziellen Nöten heraus in die Hände von Clarys Schwester Olga gegeben, als der kleine Junge 6 Tage zählte. Diese Beichte hat Gedda sowohl in seinem Buch wie auch in einem 1988 gegebenen Interview in der Zeitschrift Opernwelt abgelegt. Anzumerken sei, daß das Verhältnis zu seinen leiblichen Eltern ein ganzes Leben lang beeinträchtigt blieb. Ebenso disharmonisch gestaltete sich auch seine Ehe mit der jungen russischen Emigrantin. Dennoch erblickte 1955 die gemeinsame Tochter Tatjana das Licht der Welt. Sie wurde ebenfalls eine Sängerin und schaffte sogar den Weg an die Pariser Oper. In späteren Jahren trat sie vereinzelt mit ihrem Vater auf, vor allem in den 1980er Jahren versuchte Gedda den Marktwert seiner Tochter durch gemeinsame Konzerte und Tourneen zu steigern – mit geringem Erfolg.  Die Stimme Tatjana Geddas ist auf einem Konzertmitschnitt aus Stockholm vom 12. April 1987 zu hören. Vater und Tochter präsentieren Vienesse delightsWiener Vergnügen...

  Was nun den Gesang Nicolai Geddas im Jahre 1952 betrifft, so kann man sowohl in der Auf-nahme des Boris wie auch in dem Konzertmitschnitt des Oedipus Rex unter Karajan eine gänzlich andere Stimme hören, als diejenige, die man heute mit Nicolai Gedda assoziiert. Zu jener Zeit war sein vokales Instrument noch sehr schmal, von fast keuscher Anmutung. Aber schon hier wie auch in allen Aufnahmen des Folgejahres fällt die absolute Reinheit der Linie und der Tonproduktion auf. Durch die Arbeit mit Karajan und unter der Fittiche von Walter Legge war sein Marktwert rasch gestiegen, und schon vom 10. bis 14. April 1953 nahm er in London unter Alceo Galliera sein erstes Solo-Rezital auf. Es wurde vor wenigen Jahren auf CD wieder veröffentlicht und zeigt eine nahezu makellose Stimme, deren Süße beinahe zu schön ist, um männlich zu wirken.

  Nach den erfolgreichen Auftritten an der Scala mit Don Giovanni und Trionfo folgte bereits im März eine Reprise des Orff-Werkes in München unter Eugen Jochum. Nach dem erfolgreichen Start der Langspielplatte erwägte die EMI die Einspielung aller klassischen Wiener Operetten, und der erwählte Nicolai sang bereits vom 16. bis 28. April in London unter Otto Ackermann die Tenorpartien im Land des Lächelns und in der Lustigen Witwe. Seine Partnerin war natürlich Elisabeth Schwarzkopf. Trotz erster Querelen griff aber auch Karajan wieder auf ihn zurück, und am 19. Dezember sang Gedda neben Rita Streich in Rom eine konzertante Zauberflöte. Geddas großer Vorteil war seine polyglotte Sprachbegabung.

 Es wäre ideal, wenn ein Sänger die Sprachen, in denen er singt, so beherrscht, daß er darin zu denken vermag, und zwischen den Zeilen lesen kann. Vor allem für den Liedgesang.

Sein Französisch war nahezu perfekt, und es war nur eine logische Konsequenz, daß auch Dirigenten wie André Cluytens und Louis de Fromment auf ihn aufmerksam wurden. So trat Gedda bereits 1953 schon bei den Festspielen von Aix en Provence als Orphée von Gluck auf, und sang in Paris in Rossinis Stabat Mater und La damnation de Faust. Karajan holte ihn für einen weiteren Don Giovanni nach Rom und Eugen Jochum wiederholte die Münchener Afrodite mit ihm in Zürich. Selbst in Kopenhagen gab Gedda mit der Matthäus-Passion ein Radio-Konzert.

  Die vielleicht interessanteste Tätigkeit des Jahres 1953 war seine Teilnahme an der ersten Aufnahme von Gounods Faust auf Langspielplatte. Bei den Aufnahmen im Frühjahr in Paris traf Gedda erstmals auf die spanische Sopranistin Victoria de los Angeles, die durch die Gesamtaufnahme von La Bohème mit Jussi Björling bereits auf sich aufmerksam gemacht hatte und der Beniamino Gigli eine glänzende Karriere prophezeite. Die ruhige, besonnene Spanierin wurde Geddas Lieblingspartnerin. Er sprach stets in den höchsten Tönen von ihr, und vor ihnen lagen noch viele gemeinsame Aufnahmen. Während der Niederschrift zu diesem Buch verstarb Victoria de los Angeles 81jährig am 15. Januar 2005 in Barcelona. Für Faust hatte die französische EMI den alternden Boris Christoff als Mephisto aufgeboten. Gedda entdeckte in ihm „... einen schwierigen und anmaßenden Menschen“. Die Aufnahme wurde sehr populär und gilt heute als Referenzeinspielung. Als Cluytens 1958 den Faust mit Victoria de los Angeles noch einmal in Stereo aufnehmen wollte, war sein Wunschtenor Jussi Björling verhindert, und wieder übernahm Nicolai Gedda den Part des Faust – und sogar Boris Christoff war wieder Mephisto!

  Nicolai Gedda und Gounods Faust bilden eine wunderbare Symbiose, obwohl der Sänger die Rolle als indifferent bezeichnet. Die zarte Lyrik der Partie passt hervorragend zu dem jungen Gedda, und >Salut! Demeure chaste et pure< mit dem hohen C, hat in seiner Interpretation nur noch wenige Konkurrenten. Natürlich hat der Beckmesser aller Rezensenten, Jürgen Kesting, auch hier zu mäkeln: „Für die Eröffnungsszene fehlte es ihm damals an deklamatorischer Kraft und in den heikel hoch liegenden dramatischen Passagen des Duell-Trios war er einfach überfordert!“ Dennoch setzt Kesting ihn weit über Domingo, Carreras und Kraus, denen er „beträchtlich überlegen“ ist. Helena Matheopoulos bezeichnet Gedda in ihrem Buch Bravo! als „Faust aller Faust“ und führt dies vor allem auf „das sinnliche, strah-lende Timbré“ des jungen Sängers zurück. Nicolai Gedda selbst sieht zunächst einmal kaum Ähnlichkeiten zwischen Goethes und Gounods Faust-Portrait. „Die Handlung ist in der Oper verdichtet und sehr simpel. Der ganze Inhalt liegt in Gounods wunderschöner Musik.“ In seinen Lebenserinnerungen ergänzt er: „Die Rolle ist schwer genug, um etwas Vernünftiges daraus zu machen, trotzdem habe ich sie mehr als irgendeine andere gesungen. Jetzt habe ich den Kerl weggelegt! Ich teile wirklich seine blödsinnige Ansicht nicht, Glück sei dasselbe wie Jugend!“ 1953 aber lagen noch viele Faust vor ihm, und er sollte wenige Jahre darauf mit ihm an der Metropolitan Opera debütieren!

  Geddas Ruhm verbreitete sich im internationalen Opernbetrieb wie ein Lauffeuer. Jeder wollte mit dem jungen, schüchternen Tenor zusammenarbeiten, der über eine makelose Gesangstechnik, eine Bombenhöhe und über enorme Sprachbegabung verfügte. Was dieses Talent betrifft, so wuchs Gedda dreisprachig auf: Schwedisch und russisch sprachen die Eltern, nach 1934 wohnte die Familie in Leipzig und Nicolai lernte deutsch. In der Schule kamen Englisch und Französisch hinzu, mit der Oper später selbstverständlich dann noch Italienisch. Wenn er – wie 1954 – viele Engagements in Frankreich annahm, dann konnte er sich fließend mit seinen Dirigenten französisch unterhalten. Es war eine Sprache, die Gedda durch alte französische Filme immer sehr geliebt hatte. Am 12. Februar fand unter Cluytens sein Debüt an der Pariser Oper in Webers Oberon als Hüon statt, eine gefürchtete Partie mit extremer Höhenlage. Cluytens wählte den Schweden auch für Mireille in Aix, Die Schöpfung und das Requiem von Verdi in Paris, das er unter Karajan in Wien noch einmal sang. Der Reigen der Dirigenten wurde größer: Alleine 1954 arbeitete Gedda u.a. mit Cluytens, Karajan, John Pritchard, Hans Rosbaud, Georges Sebastian und Giandrea Gavazzeni zusammen. Im April sang er erstmals am Royal Opera House Covent Garden. Seine Antrittspartie war der Herzog in Verdis Rigoletto, kurz danach stand er mit Elisabeth Schwarzkopf im Mai wieder im Londoner Schallplattenstudio und sang unter Otto Ackermann Zigeunerbaron, Nacht in Venedig und Wiener Blut.

  Zurück in Frankreich gab er am 11. Juli in Aix en Provence seinen ersten Belmonte in Mozarts Entführung aus dem Serail, und ließ auch die heikle „Baumeister-Arie“ nicht aus. Seinen Auftrittserfolg in Gounods Mireille festigte er mit der entsprechenden Schallplattenaufnahme im Juli, ebenfalls wieder unter Cluytens.

  Eine besondere Aufgabe stellte sich ihm in der Zeit vom 31. August bis zum 8. September. In Mailand nahm er für die italienische EMI an den Aufnahmen zu Rossinis Il Turco in Italia teil und traf erstmals auf Maria Callas, von der er nur mit Bewunderung sprach. Aber auch Gedda räumte ein, „daß sie in ihrer Glanzperiode zu viele und zu unterschiedliche Rollen gesungen hat. Mit solchen Belastungen wird niemand fertig!“

  Spätestens nach dieser gemeinsamen Arbeit mit Maria Callas, die kurz zuvor in der Arena von Verona mit Verdis Il Trovatore einen Triumpf erlebt hatte, war Gedda auf dem internationalen Podium anerkannt. Als er am 8. Oktober 1954 unter Karajan in Wien mit Giulietta Simionato konzertant in Georges Bizets Carmen auftrat, wurde er stürmisch begrüßt. Die Konvergenz Gedda/Simionato mutete zwar ein wenig wie eine Sohn/Mutter-Konstellation an – die italienische Diva war immerhin15 Jahre älter! - , aber aus Gedda war nun ein Tenor für die Welt geworden!

 

Zusätzliche Anmerkung: In einem 1952 gedrehten italienisch/schwedischen Spielfilm mit dem Titel Eldfageln ist auch der junge Gedda kurz zu sehen. Er singt >Land du välsignade<. Die Hauptrolle spielt Tito Gobbi.


 Vom Postillon zum Priester 2. Spezialist für schwierige Partien (1954-1960)