„Natürlich war ich überglücklich!“. So beschreibt Nicolai
Gedda in seiner Autobiographie seinen ersten Eindruck, als ihm im Herbst 1951
von der Leitung der Königlichen Oper in Stockholm die Hauptrolle in einer Neuinszenierung
von Les Postillon du Lonjumeau angetragen wurde. Gedda wertete diese
Entscheidung als ein verständliches Risiko für den Hofkapellmeister Kurt Bendix
und für den 1. Regisseur, Ragnar Hyltén-Cavallius. Seine Partnerin war Hjördis
Schymberg, bereits 43jährig, als Madame de Latour. Schymberg hatte an der
Stockholmer Oper eine große Karriere gemacht und gemeinsam mit Jussi Björling
den Schweden unvergessliche Aufführungen geschenkt. Wie Gedda weiter
beschreibt, verlief alles bestens und sein Lehrer, Carl Martin Öhmann, sprach
von einem Traumdebüt! Auch das Publikum
war begeistert und die Zeitungen feierten andertags mit guten Kritiken den
neuen, jungen Tenor der Königlichen Oper. Der andere Tenorliebling der Schweden,
Jussi Björling, befand sich zu dieser Zeit übrigens in New York und sang an der
MetropolitanOpera in Verdis Don Carlo. Jahrzehnte danach
erzählt Gedda dem Intendanten der Bayerischen Staatsoper, Prof. August
Everding, wie sehr er sich während der Proben geschämt habe, da er immer ein introvertierter
Mensch gewesen sei.
Nach dem Postillon
bewegte sich Gedda aber weiterhin durch die Gefilde tenoraler Nebenrollen, so
gab er den Sänger in Strauss´ Rosenkavalier, und in Les Contes
d´Hoffmann die Randfigur Nicklaus. Erst Wochen später führte das Schicksal
die Sängerin Elisabeth Schwarzkopf und ihren Mann, den mächtigen Produzenten
der EMI, Walter Legge, nach Stockholm. Schwarzkopf gab einen Liederabend und
Legge sperrte seine Ohren auf, weil er für seine geplante Schallplattenaufnahme
von Boris Godunow noch einige Sänger benötigte, die russisch sprachen.
Gedda, als Sohn russischer Zieheltern bilingual aufgewachsen, schien
prädestiniert. Durch Vermittlung eines Dirigenten kam es zu einem Vorsingen,
und Gedda befand sich unter den Ersten der fast 80 Aspiranten. Er bot die
Blumenarie und sang die letzte Note zu laut. Dazu Legge: „Ich erklärte ihm, was
ich hören wollte, den Schwellton, das Diminuendi und anderes. Dann sagte
ich: Singen Sie es noch mal! Er wiederholte das Stück, sang so schön wie nie
zuvor und den Schluß exakt so, wie ich es hatte hören wollen.“ Er sang auch die
beiden Arien des Ottavio aus Don Giovanni. Mit Legges Worten „schöner,
als ich sie je gehört hatte, ausgenommen von Richard Tauber und der Platte von
John McCormack.“ Walter Legge ließ den jungen, hochgewachsenen Tenor einen
Vertrag unterzeichnen und prophezeite, daß in ein paar Jahren die ganze Welt
von ihm sprechen werde. Zumindest Legge berichtete eifrig von Gedda. Sein
Telegramm an Scala-Chef Giringhelli ist Geschichte: „Hörte heute den größten
Mozart-Tenor meines Lebens. Name ist Nicolai Gedda!“. Dank seiner
weitreichenden Beziehungen erhielt Gedda noch vor der Aufnahme zum Boris
in Paris bereits eine Einladung zum Vorsingen an die Mailänder Scala. Herbert
von Karajan hatte mit Legge gesprochen und nun den künstlerischen Leiter des
Hauses zu diesem Termin überreden können. Das Vorsingen endete mit einem
Vertrag für Don Giovanni und Orffs Trionfo di Afrodite, zwei
Werke, die im Januar und Februar 1953 an der Scala aufgeführt werden sollten.
Doch Karajan wünschte noch vor diesem Termin eine Zusammenarbeit, er wollte
sich nicht blamieren. So kam es bereits am 20. Dezember 1952 in Rom zu einer
konzertanten Aufführung für den Rundfunksender RAI von Strawinskys Oedipus
Rex.
Die Aufnahmen in
Paris zum Boris verliefen ohne Zwischenfälle, sieht man einmal ab von
einer überstürzten Blitzverlobung Geddas mit einem russischen Emigrantenmädchen
aus dem Chor. Mit ihr hatte Gedda eine Affaire begonnen. Nun drängten die
Eltern des Mädchens auf eine baldige Heirat. Am 1. Juli gab Gedda ein Konzert,
und vom 7. bis zum 21. Juli 1952 wurde der Boris aufgenommen. Bevor
Gedda wirklich begriff, wie ihm geschah, hatte er ein Eheversprechen geleistet.
Peinlicherweise kam bei der Hochzeit am 5. Juli des Folgejahres auch das
Geheimnis um Geddas wahre Eltern ans Tageslicht. Als seine eigentlichen Eltern
hat Gedda immer seine Zieheltern Olga Gädda und Michail Ustinoff angesehen,
biologisch gesehen seine Tante und sein Onkel.
Seine leiblichen Eltern, Clary Linnea Lindberg und ihr Verlobter,
Nikolaj Gädda, hatten ihn wegen der Schmach einer außerehelichen Niederkunft
und aus finanziellen Nöten heraus in die Hände von Clarys Schwester Olga
gegeben, als der kleine Junge 6 Tage zählte. Diese Beichte hat Gedda sowohl in
seinem Buch wie auch in einem 1988 gegebenen Interview in der Zeitschrift
Opernwelt abgelegt. Anzumerken sei, daß das Verhältnis zu seinen leiblichen
Eltern ein ganzes Leben lang beeinträchtigt blieb. Ebenso disharmonisch
gestaltete sich auch seine Ehe mit der jungen russischen Emigrantin. Dennoch
erblickte 1955 die gemeinsame Tochter Tatjana das Licht der Welt. Sie wurde
ebenfalls eine Sängerin und schaffte sogar den Weg an die Pariser Oper. In
späteren Jahren trat sie vereinzelt mit ihrem Vater auf, vor allem in den
1980er Jahren versuchte Gedda den Marktwert seiner Tochter durch gemeinsame
Konzerte und Tourneen zu steigern – mit geringem Erfolg. Die Stimme Tatjana Geddas ist auf einem
Konzertmitschnitt aus Stockholm vom 12. April 1987 zu hören. Vater und Tochter
präsentieren Vienessedelights – WienerVergnügen...
Was nun den
Gesang Nicolai Geddas im Jahre 1952 betrifft, so kann man sowohl in der
Auf-nahme des Boris wie auch in dem Konzertmitschnitt des Oedipus Rex
unter Karajan eine gänzlich andere Stimme hören, als diejenige, die man heute
mit Nicolai Gedda assoziiert. Zu jener Zeit war sein vokales Instrument noch
sehr schmal, von fast keuscher Anmutung. Aber schon hier wie auch in allen
Aufnahmen des Folgejahres fällt die absolute Reinheit der Linie und der
Tonproduktion auf. Durch die Arbeit mit Karajan und unter der Fittiche von
Walter Legge war sein Marktwert rasch gestiegen, und schon vom 10. bis 14.
April 1953 nahm er in London unter Alceo Galliera sein erstes Solo-Rezital auf.
Es wurde vor wenigen Jahren auf CD wieder veröffentlicht und zeigt eine nahezu
makellose Stimme, deren Süße beinahe zu schön ist, um männlich zu wirken.
Nach den
erfolgreichen Auftritten an der Scala mit Don Giovanni und Trionfo
folgte bereits im März eine Reprise des Orff-Werkes in München unter Eugen
Jochum. Nach dem erfolgreichen Start der Langspielplatte erwägte die EMI die
Einspielung aller klassischen Wiener Operetten, und der erwählte Nicolai sang
bereits vom 16. bis 28. April in London unter Otto Ackermann die Tenorpartien
im Land des Lächelns und in der Lustigen Witwe. Seine Partnerin
war natürlich Elisabeth Schwarzkopf. Trotz erster Querelen griff aber auch
Karajan wieder auf ihn zurück, und am 19. Dezember sang Gedda neben Rita
Streich in Rom eine konzertante Zauberflöte. Geddas großer Vorteil war
seine polyglotte Sprachbegabung.
Es wäre ideal,
wenn ein Sänger die Sprachen, in denen er singt, so beherrscht, daß er darin zu
denken vermag, und zwischen den Zeilen lesen kann. Vor allem für den Liedgesang.
Sein Französisch war nahezu perfekt, und es war nur eine
logische Konsequenz, daß auch Dirigenten wie André Cluytens und Louis de
Fromment auf ihn aufmerksam wurden. So trat Gedda bereits 1953 schon bei den
Festspielen von Aix en Provence als Orphée von Gluck auf, und sang in
Paris in Rossinis Stabat Mater und La damnation de Faust. Karajan
holte ihn für einen weiteren Don Giovanni nach Rom und Eugen Jochum
wiederholte die Münchener Afrodite mit ihm in Zürich. Selbst in
Kopenhagen gab Gedda mit der Matthäus-Passion ein Radio-Konzert.
Die vielleicht
interessanteste Tätigkeit des Jahres 1953 war seine Teilnahme an der ersten
Aufnahme von Gounods Faust auf Langspielplatte. Bei den Aufnahmen im
Frühjahr in Paris traf Gedda erstmals auf die spanische Sopranistin Victoria de
los Angeles, die durch die Gesamtaufnahme von La Bohème mit Jussi
Björling bereits auf sich aufmerksam gemacht hatte und der Beniamino Gigli eine
glänzende Karriere prophezeite. Die ruhige, besonnene Spanierin wurde Geddas
Lieblingspartnerin. Er sprach stets in den höchsten Tönen von ihr, und vor
ihnen lagen noch viele gemeinsame Aufnahmen. Während der Niederschrift zu
diesem Buch verstarb Victoria de los Angeles 81jährig am 15. Januar 2005 in
Barcelona. Für Faust hatte die französische EMI den alternden Boris
Christoff als Mephisto aufgeboten. Gedda entdeckte in ihm „... einen
schwierigen und anmaßenden Menschen“. Die Aufnahme wurde sehr populär und gilt
heute als Referenzeinspielung. Als Cluytens 1958 den Faust mit Victoria
de los Angeles noch einmal in Stereo aufnehmen wollte, war sein Wunschtenor
Jussi Björling verhindert, und wieder übernahm Nicolai Gedda den Part des Faust
– und sogar Boris Christoff war wieder Mephisto!
Nicolai Gedda und
Gounods Faust bilden eine wunderbare Symbiose, obwohl der Sänger die Rolle als
indifferent bezeichnet. Die zarte Lyrik der Partie passt hervorragend zu dem
jungen Gedda, und >Salut! Demeurechasteetpure<
mit dem hohen C, hat in seiner Interpretation nur noch wenige Konkurrenten.
Natürlich hat der Beckmesser aller Rezensenten, Jürgen Kesting, auch hier zu
mäkeln: „Für die Eröffnungsszene fehlte es ihm damals an deklamatorischer Kraft
und in den heikel hoch liegenden dramatischen Passagen des Duell-Trios war er
einfach überfordert!“ Dennoch setzt Kesting ihn weit über Domingo, Carreras und
Kraus, denen er „beträchtlich überlegen“ ist. Helena Matheopoulos bezeichnet
Gedda in ihrem Buch Bravo! als „Faust aller Faust“ und führt dies vor
allem auf „das sinnliche, strah-lende Timbré“ des jungen Sängers zurück.
Nicolai Gedda selbst sieht zunächst einmal kaum Ähnlichkeiten zwischen Goethes
und Gounods Faust-Portrait. „Die Handlung ist in der Oper verdichtet und sehr
simpel. Der ganze Inhalt liegt in Gounods wunderschöner Musik.“ In seinen
Lebenserinnerungen ergänzt er: „Die Rolle ist schwer genug, um etwas
Vernünftiges daraus zu machen, trotzdem habe ich sie mehr als irgendeine andere
gesungen. Jetzt habe ich den Kerl weggelegt! Ich teile wirklich seine
blödsinnige Ansicht nicht, Glück sei dasselbe wie Jugend!“ 1953 aber lagen noch
viele Faust vor ihm, und er sollte wenige Jahre darauf mit ihm an der Metropolitan
Opera debütieren!
Geddas Ruhm
verbreitete sich im internationalen Opernbetrieb wie ein Lauffeuer. Jeder
wollte mit dem jungen, schüchternen Tenor zusammenarbeiten, der über eine
makelose Gesangstechnik, eine Bombenhöhe und über enorme Sprachbegabung
verfügte. Was dieses Talent betrifft, so wuchs Gedda dreisprachig auf:
Schwedisch und russisch sprachen die Eltern, nach 1934 wohnte die Familie in
Leipzig und Nicolai lernte deutsch. In der Schule kamen Englisch und
Französisch hinzu, mit der Oper später selbstverständlich dann noch
Italienisch. Wenn er – wie 1954 – viele Engagements in Frankreich annahm, dann
konnte er sich fließend mit seinen Dirigenten französisch unterhalten. Es war
eine Sprache, die Gedda durch alte französische Filme immer sehr geliebt hatte.
Am 12. Februar fand unter Cluytens sein Debüt an der Pariser Oper in Webers Oberon
als Hüon statt, eine gefürchtete Partie mit extremer Höhenlage. Cluytens wählte
den Schweden auch für Mireille in Aix, Die Schöpfung und das Requiem
von Verdi in Paris, das er unter Karajan in Wien noch einmal sang. Der Reigen
der Dirigenten wurde größer: Alleine 1954 arbeitete Gedda u.a. mit Cluytens,
Karajan, John Pritchard, Hans Rosbaud, Georges Sebastian und Giandrea Gavazzeni
zusammen. Im April sang er erstmals am Royal Opera House Covent Garden. Seine
Antrittspartie war der Herzog in Verdis Rigoletto, kurz danach stand er
mit Elisabeth Schwarzkopf im Mai wieder im Londoner Schallplattenstudio und
sang unter Otto Ackermann Zigeunerbaron, Nachtin Venedig und
Wiener Blut.
Zurück in
Frankreich gab er am 11. Juli in Aix en Provence seinen ersten Belmonte in
Mozarts Entführung aus dem Serail, und ließ auch die heikle „Baumeister-Arie“
nicht aus. Seinen Auftrittserfolg in Gounods Mireille festigte er mit
der entsprechenden Schallplattenaufnahme im Juli, ebenfalls wieder unter
Cluytens.
Eine besondere
Aufgabe stellte sich ihm in der Zeit vom 31. August bis zum 8. September. In
Mailand nahm er für die italienische EMI an den Aufnahmen zu Rossinis Il
Turco in Italia teil und traf erstmals auf Maria Callas, von der er nur mit
Bewunderung sprach. Aber auch Gedda räumte ein, „daß sie in ihrer Glanzperiode
zu viele und zu unterschiedliche Rollen gesungen hat. Mit solchen Belastungen
wird niemand fertig!“
Spätestens nach
dieser gemeinsamen Arbeit mit Maria Callas, die kurz zuvor in der Arena von
Verona mit Verdis Il Trovatore einen Triumpf erlebt hatte, war Gedda auf
dem internationalen Podium anerkannt. Als er am 8. Oktober 1954 unter Karajan
in Wien mit Giulietta Simionato konzertant in Georges Bizets Carmen
auftrat, wurde er stürmisch begrüßt. Die Konvergenz Gedda/Simionato mutete zwar
ein wenig wie eine Sohn/Mutter-Konstellation an – die italienische Diva war
immerhin15 Jahre älter! - , aber aus Gedda war nun ein Tenor für die Welt
geworden!
Zusätzliche Anmerkung: In einem 1952 gedrehten
italienisch/schwedischen Spielfilm mit dem Titel Eldfageln ist auch der
junge Gedda kurz zu sehen. Er singt >Land du välsignade<. Die
Hauptrolle spielt Tito Gobbi.