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Geddas Stimme und Gesangstechnik

Zunächst muß man wissen, daß Gedda jegliche sängerische Exhibition, jegliches "Protzen" mit Spitzentönen absolut fremd ist. Für ihn ist Gesang eine Kunst, deren Vollendung seine Stimme dient. Deshalb bezeichnet Jens Malte Fischer ihn als "Tenor für Kenner". Weiterhin schreibt er in seinem Buch "Große Stimmen": "Wer aber für Singen als Kunst etwas übrig hat, für ein mirakulöses Legato, für eine nach heutigen Maßstäben geradezu unglaubliche Kunst, die voix mixte einzusetzen, die das Hauptgeheimnis seiner leichten Höhe ist, für eine bruchlose Verblendung der Register, für eine vorbildliche Deklamation und eine staunenerregende stilistische Einfühlung in verschiedene Epochen, Stile und Sprachen, der fühlte und fühlt sich bei Gedda immer aufgehoben wie in Abrahams Schoß."

Nicolai Gedda ist ein lyrischer Tenor, dessen unverwechselbare Stimme sich besonders gut (neben vielem anderen) für das russische und französische Fach eignet. Als Schwede fehlt seiner Stimme zwar die warme Sinnlichkeit des Südens, dafür hat seine Stimme einen leicht melancholischen Klang. Aus diesem Grund kann er aber auch ohne Probleme zum Beispiel den Evangelisten in der Matthäus-Passion singen, was man von einem Domingo oder Pavarotti nicht erwarten darf.

Gedda verfügt über eine helle, hoch gelagerte und wunderbar klare Stimme, mit der er mühelos in die Höhe gelangt. Hohe Cs oder auch Ds sind daher kein Problem für ihn, wie ein Ausschnitt aus der Oper Le Postillon de Lonjumeau von Adolphe Adam aus dem Jahr 1961 beweist [Hinweis: RealPlayer wird benötigt]:

Mes amis, écoutez l'histoire

Auch die Bravourarie des Sorbinin aus Glinkas Oper Ein Leben für den Zaren ist hierfür ein schönes Beispiel:

Brüder! Im Sturm

Anstatt Spitzentöne aus voller Brust zu schmettern, kann Gedda sie auch mit einer wunderbaren voix mixte (Mischung aus Brust- und Kopfstimme) singen, mit der man ihn in einem Ausschnitt aus Bellinis Oper Die Puritaner hören kann:

Credeasi misera, da me tradita

Hier hat Gedda sogar ein hohes F gesungen, obwohl die meisten Sänger heute "nur" noch ein Des singen. Und wer sich heute noch an das F heranwagt, singt dies entweder im Falsett oder der Klang ist kaum noch besonders schön. Ein technisch perfekter Sänger wie Nicolai Gedda verwendet die voix mixte, um hohe Töne mit Brustresonanz verstärkt wiederzugeben, so daß man fast meinen könnte, er würde sie mit Bruststimme singen. Hier ein anderer Ausschnitt, in dem Gedda diese voix mixte verwendet:

Goldmark, Die Königin von Saba: Magische Töne

Neben der erstaunlichen Dehnfähigkeit von Geddas Stimme fällt sofort seine sängerische Eleganz auf. Diese beruht auf seiner Phrasierungskunst und seiner unglaublichen Beherrschung des Atems. Auch seine bruchlose Verblendung der Register, seine vorbildliche Deklamation und Aussprache tragen zu dieser Eleganz bei. Beispiele hierfür gibt es viele, vor allem aber aus französischen Opern:

Bizet: Les Pêcheurs de Perles: Je crois entendre encore

Gounod, Roméo et Juliette: Ah lève-toi, soleil

Selbst wenn Nicolai Gedda aus voller Brust schmettert, ist es erstaunlich, wie lange er es aushält, ohne Luft zu holen:

Weber, Oberon: Von Jugend auf

Und noch ein tolles Beispiel dafür, wie lang er eine Phrase aushalten kann, ohne Luft zu holen, ganze 14 Sekunden!

Meyerbeer, Die Hugenotten: Ah! Viens!

Beeindruckend sind auch Geddas faszinierende Crescendi und Decrescendi, seine ganz leise gesungenen Töne, was man in einem Lied von Richard Strauss hören kann:

Strauss: Befreit Op. 39 Nr. 4

Auch andere "technische Tricks" wie das Einfärben der Stimme ("gedecktes Singen") mit einer tiefen Klangfarbe, bzw. die künstliche Abdunklung von Vokalen meistert Gedda souverän:

Verdi, Aida: La fatal pietra

Bisher ist bestimmt auch schon Geddas Vielseitigkeit aufgefallen, was Sprachen betrifft. Er spricht und singt akzentlos neben Schwedisch und Deutsch auch Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch und Russisch. Hier je ein Beispiel für Russisch und Deutsch:

Tschaikowsky, Pique Dame: Cto nasa zisn' - Igra

Lehár, Das Land des Lächelns: Dein ist mein ganzes Herz (RealMedia-Video)

Der Videoausschnitt stammt von einem Konzert zu Ehren von Franco Corelli aus dem Jahre 1997. Diese Interpretation der bekannten Arie ist die emotionalste und intensivste, die ich je gehört habe, bleibt aber dennoch echt und natürlich. Nur ein Künstler mit viel Lebenserfahrung kann sie so wiedergeben.

Genauso vielseitig ist Gedda, was die verschiedenen Stilrichtungen angeht. Neben allem bisher gehörten kann man bei Gedda ebenso Romantik, wie Moderne (man denke zum Beispiel an Orff) Belcanto, wie Sakralmusik hören:

Rossini, Il Barbiere di Siviglia: Ecco ridente in cielo

Bach, Matthäus-Passion: "Ich will bei meinem Jesu wachen"

Ein letztes Merkmal von Geddas Gesangskunst ist seine verblüffend langlebige Stimme. Wenn ein Sänger erst einmal die 60 Jahre überschritten hat, verliert die Stimme normalerweise langsam an Glanz, sie ist nicht mehr so dehnfähig, wird spröde und in der Höhe dünn. Bei Gedda merkt man davon nicht viel. Seine Stimme gewann zunächst spürbar an Tiefe und Volumen, so daß Gedda  Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre (Gedda war damals etwa 45 Jahre alt) auf seinem Höhepunkt war. Doch selbst heute, mit über 75 Jahren gibt Gedda noch Liederabende. Wie seine Stimme 1997 geklungen hat, kann man nochmals anhand einer seiner berühmten Operettenarien hören:

Lehár, Das Land des Lächelns: Dein ist mein ganzes Herz (RealMedia-Video)

Selbst mit 68 Jahren gelingt es Gedda noch, die Stimme wunderbar ruhig zu halten. Er hat seinen Atem noch unter voller Kontrolle und kann die Lautstärke fließend an- und wieder abschwellen lassen.

Diese noch so frische Stimme verdankt Gedda zum einen seiner klugen Zurückhaltung was seine Rollenplanung anbelangt. Nie hat Gedda Rollen angenommen, für die seine Stimme noch nicht reif genug war, oder die ihm für seine Stimme nicht geeignet erschienen. Zum anderen hat er nie forciert oder seine Stimme überbeansprucht, sondern immer auf ausreichende Erholungspausen zwischen den Aufführungen geachtet. Für Gedda war seine Stimme niemals nur ein Mittel zum Zweck. Für ihn war sie eine Gabe, ein Geschenk Gottes, das er verwalten, pflegen und zu vervollkommnen suchte. Diese Disziplin und nicht zuletzt auch seine überragende Stimmtechnik und sein Wissen über den Stimmapparat haben seine Stimme vor frühzeitigem Nachlassen bewahrt.