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CD-Booklets: Operettenarien

Nicolai Gedda singt Operette (1988)

„Dieser vielleicht derzeit vollkommenste Tenor-Belcantist gibt seinem Sou-Chong eine solche Fülle von Glanz, lagentechnischer Raffinesse, Eleganz der Phrasierung und Deklamation, gesanglicher Kultur und geschmacklicher Sicherheit mit, wie es seit dem legendären Richard Tauber wohl nur noch Peter Anders in seiner besten Zeit gelungen ist. Das ist ein wahres Privatissimum über Gesangstechnik", schrieb die Hi-Fi-Stereophonie 1967 über Nicolai Gedda.

Wo immer über Perfektion des Singens gesprochen wird, fällt unweigerlich sein Name. Geboren wurde Gedda als Nicolai Ustinoff, Sohn eines russischen Bassisten (im Don-Kosaken-Chor) und einer schwedischen Mutter in Stockholm. Seine Kindheit verbrachte er in Leipzig, dort war sein Vater Kantor der russischen Gemeinde. 1934 kam er nach Schweden zurück. Dort begann er ein Gesangsstudium am Königlichen Konservatorium in Stockholm. Sein berühmtester Lehrer war Carl Martin Oehmann. 1952 engagierte man Gedda von der Schule weg an die Königliche Oper Stockholm für die Partie des Chapelou in Adolphe Adams Der Postillon von Lonjumeau.

Herbert von Karajan, der von Geddas sängerischen Qualitäten begeistert war, verpflichtete ihn sofort für eine Aufnahme der h-moll-Messe von Bach. Damit begann eine unaufhaltsame Karriere, die sich gleichermaßen auf der Opernbühne, dem Konzertpodium und im Schallplattenstudio abspielte. Gedda erarbeitete sich ein Riesenrepertoire, in dem mehr als 70 Opernrollen, die Tenorpartien in den großen Oratorien und unzählige Lieder ebenso vertreten sind wie die wichtigsten Partien der klassischen Operette. Er singt in nicht weniger als sechs Sprachen: deutsch, englisch, französisch, italienisch, schwedisch und russisch. Seine schlackenlos reine Stimme, die vom lyrischen bis zum jugendlich-dramatischen Fach reicht, wird mit einer unfehlbaren Technik geführt. Dazu gesellt sich ein immenses Gestaltungsvermögen, das ihn jede Rolle überzeugend interpretieren und den jeweils richtigen Ausdruck finden läßt.

Was aber macht den großen Operettentenor Gedda aus? Es ist jedenfalls mehr als nur die große Stimme, mehr als der Glanz des hohen C, mehr als das Opernpathos. Der Operettentenor muß natürlich ein hervorragender Opernsänger sein, und zwar aus dem lyrischen Stimmfach; die Stimme selbst muß ein reizvolles persönliches Timbre, muß Individualität, gleichsam die Aura der Einmaligkeit haben; und zu den technischen Voraussetzungen gehören eine leicht ansprechende und leuchtende Höhe sowie die Fähigkeit, melodische Bögen sauber und elegant ziehen zu können, nicht zuletzt aber eine makellose Aussprache, also das Vermögen, mit der Farbe und der Modulationsfähigkeit der Stimme eine fast unhörbare Textnuance unaufdringlich und deutlich zugleich zur Geltung bringen zu können: kurz, die versammelten Qualitäten des exzellenten Mozart-Tenors. Noch eines kommt dazu: die wohl nicht erlernbare Fähigkeit, die oft heiklen Stimmungsgehalte der Operette zwischen sentimentaler Emphase und erotischer Unbedenklichkeit rein stimmlich nachzuvollziehen, ohne penetrante Drücker, ohne Übertreibung; und zwar dergestalt, daß höchste Ausdrucksintensität und künstlerisches Raffinement umschlagen in jene "zweite Naivität", die für bedeutende Operetteninterpreten wie Tauber und seinen wohl einzigen legitimen Nachfolger, Nicolai Gedda, charakteristisch ist. Operette, so gesungen, ist nicht tot, besitzt vielmehr, eben weil sie mit höchster Kunstfertigkeit und artistischer Brillanz realisiert wird, in unserem Musikleben ihren Platz als Moment musikalischer Entspannung.