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FONO FORUM 1966

Nicolai Gedda

Ein Porträt von Ingo Harden 

(Quelle: FONO FORUM Ausgabe 9/1966)

Dass es mit dem Intelligenzquotienten von Tenören nicht zum besten bestellt sein soll, ist ein so weit verbreitetes und hartnäckiges Gerücht, daß es hier nur deshalb noch einmal aufs Tapet gebracht werden soll, weil der Tenor, der auf diesen Seiten porträtiert wird, der lebendige Gegenbeweis für eine solche Verallgemeinerung ist: Nicolai Gedda, Sohn eines emigrierten russischen Lehrers und einer Schwedin, ist der Musterfall eines intelligenten modernen Sängers, der seine Wirkungen nicht allein durch schiere Schönheit der Stimme erzielt, wie es bei Tenören so überaus beliebt war und ist, sondern zugleich vollendete Technik und empfindliches Stilgefühl besitzt. Dabei sind Stil, Technik und Charakterisierungskunst durchaus keine Kompensation für eine geringere stimmliche Mitgift. Im Gegenteil lässt Geddas lyrische Tenorstimme schon nach ein paar Tönen ihren Ausnahmecharakter erkennen. Ich erinnere mich, daß ich bei der ersten (künstlerischen) Begegnung – es erklang die Arie des Sobinjin aus Glinkas „Leben für den Zaren“ vom Band – geradezu betroffen war von dem Reiz dieses einzigartig hellen und leuchtenden Timbres, von der lächelnden Selbstverständlichkeit und Mühelosigkeit und Kraft, mit der die Höhe gewonnen wurde. Die Aufnahme liegt schon einige Jahre zurück, die Stimme Geddas ist mittlerweile im Timbre „normaler“ geworden, hat sich von der Extremposition des Anfangs etwas entfernt, ohne dabei jedoch – vierzehn Jahre nach Beginn seiner sängerischen Laufbahn – an Schmelz und Qualität eingebüßt zu haben.

Diese vierzehnjährige Karriere begann ohne Paukenschlag, ohne ambitionierte Vorbereitung auf einen ersehnten Tag X, sondern wie durch Zufall. Während der 26jährige Gedda am Königlichen Konservatorium von Stockholm studierte, hörten zwei Lehrer des Instituts, die gleichzeitig an der Oper dirigierten und inszenierten, den Gesangsstudenten seine Skalen bis zum gefürchteten und selten gut erreichten hohen d singen. Da sie gerade eine Aufführung von Adams „Postillon von Lonjumeau“ planten, dessen berühmte Auftrittsarie einen jugendlichen Sänger mit mühelosen hohen c und d verlangt, kam ihnen diese Entdeckung sehr gelegen: Sie boten ihm, dem bühnenunerfahrenen Anfänger, die Hauptrolle an, und Gedda nahm seine Chance natürlich wahr.

Ähnlich unforciert war auch sein Weg zur Musik verlaufen. Gedda wirkte schon als kleines Kind in einem Kinderquartett der russisch-orthodoxen Kirche in Leipzig mit, wo sein Vater als Kantor tätig war. Er sang gern, zeigte auch große musikalische Begabung, aber damals wie später, als die Familie Ustinoff wieder nach Stockholm zurückgekehrt war, kam ihm noch nicht in den Sinn, die Sängerlaufbahn einzuschlagen. Auf diesen Gedanken brachte ihn erst der schwedische Tenor Oehman, ein einstmals sehr bekannter Tenor und Gesangspädagoge, bei dem er nach dem Abitur Stunden nahm, während er sich tagsüber als Bankangestellter die ersten beruflichen Sporen verdiente. Oehman erkannte Geddas Talent, sorgte dafür, daß ihm bald ein Stipendium zugesprochen wurde, das es ihm ermöglichte, sich ganz der Musik zuzuwenden und am Stockholmer Konservatorium zu studieren. Und nun ging alles sehr schnell: Schon nach drei Jahren debutierte er – es war der 8. April 1952 – in der Oper als Adams Postillon Chapelou und hatte einen sensationellen Erfolg. Zwei Monate später bereits stand Gedda vor den Pariser Aufnahme-Mikrophonen der EMI, um in der Christoff-Aufnahme des „Boris Godunoff“ den falschen Dimitri zu singen. Im Herbst desselben Jahres holte Karajan ihn sich für eine Einspielung der h-moll-Messe von Bach, Anfang 1953 stand er, wiederum unter Karajan, zum erstenmal auf den Brettern, die die ganz große Opernwelt bedeuten: Er sang an der Mailänder Scala den Ottavio in Mozarts „Don Giovanni“, dieselbe Rolle, die er vor einem Vierteljahr unter Klemperer in London auch für die Schallplatte gesungen hat. Bald gastierte Gedda an allen großen Opernhäusern der Welt. Als er 1957 auch das Publikum der New Yorker Met im Sturm eroberte, war er bereits etabliert und gehörte unbestritten zur Weltspitzengruppe der Tenöre.

 

Inzwischen hat Gedda in dreißig großen Rollen auf der Bühne gestanden, hat eine beträchtliche Anzahl von Liederabenden gegeben und last not least in über sechzig Schallplattenaufnahmen mitgewirkt. Ein so ausgedehntes Repertoire läßt auf Vielseitigkeit schließen, und tatsächlich ist die Vielseitigkeit eine der bemerkenswertesten Eigenschaften Geddas. Sie äußert sich allein schon in der Tatsache, daß er nicht etwa Opernsänger mit einer Neigung zu gelegentlichen Ausflügen in die Bereiche des Liedes, der Operette und der Folkore ist, sondern alle ihm erreichbaren Sparten sängerischer Betätigung mit hörbarer Lust und Freude betreibt. Er gehört zu den heute seltenen Sängern, die gleichermaßen perfekt sind als Rigoletto-Herzog und Fledermaus-Eisenstein, als Carmens Don José und der Camille de Rosillon in Lehárs „Lustiger Witwe“, als Solist in Verdis Requiem, als Sänger des romantischen Liedes aller Sprachen und Stile und als Vorsänger eines Kosakenchors. Dabei schlägt er die Musik, die er zu singen hat, in keinem Fall über seinen eigenen Leisten, er hat keine „Masche“, seine Manier ist allein die gute Manier der musterhaften Einfühlung in den Stil des jeweiligen Werkes.


Man braucht nur der Platte „Nicolai Gedda – ein Opernabend“ einmal aufmerksam zuzuhören, und man wird schnell gewahr werden, welche geschmackliche Noblesse und stilistische Sorgfalt sich hinter der scheinbaren Mühelosigkeit des Singens verbirgt. Die Kunst der Charakterisierung und Nuancierung feiert Triumphe. Gedda packt den Don José ganz anders an als den Marquis in Lortzings „Zar und Zimmermann“, den Rudolf in der Bohème ganz anders als eine seiner Operettenrollen, die er mit lockerer Eleganz und Charme „hinlegt“. Er ist eine sängerische Proteus-Natur, der es gegeben ist, ohne Maske und Kostüm, allein mit stimmlichen Mitteln, Rollen zu gestalten. Gedda-Konstanten bleiben natürlich trotzdem erkennbar; es sind die geschmackvolle Sensibilität seines Vortrags, das unforcierte Singen auch im Forte und Fortissimo – „man darf nie forcieren!“ – und seine musterhafte Wortbehandlung. Dieses sehr enge Verhältnis zur Sprache – genauer gesagt: zu den sieben Sprachen in denen Gedda singt – zeigt sich besonders schön in seinem Liedgesang. Jedes Lied erhält seine Gestaltung vom Wort und seinem Sinn her. Die Melodie wird als eine Funktion des Textes betrachtet, wobei Gedda allerdings nicht ganz so weit geht wie Fischer-Dieskau, dem er hier sehr nahe steht. Es versteht sich beinahe von selbst, daß ein Sänger dieser Couleur für die Schallplatte geradezu ideal ist. Tatsächlich ist Gedda denn auch seit seinem Eintritt in die internationale Musikwelt einer der meistbeschäftigten Schallplatten-Sänger – er hat heute bereits eine Rolle wie den Don José zweimal (mit Victoria de los Angeles und mit der Callas) auf Platten gesungen. Und es vergeht kaum ein Monat, in dem er nicht in den Aufnahmestudios zu finden ist. Auch in diesem Sommer war Gedda wieder stark beschäftigt. Mit Mirella Freni sang er im Juni eine Platte mit Liebesduetten ein, anschließend war er der Ottavio der schon erwähnten neuen Klemperer-Aufnahme des Don Giovanni, im Juli standen Aufnahmen zu einem großen Faust-Film nach Gounods Oper auf seinem Terminkalender – neben Gedda in der männlichen Hauptrolle sangen Nicolai Ghiaurov den Mephisto und Anna Moffo das Gretchen. Im vorigen Monat stand er zusammen mit Renato Capecchi, Mario Sereni und der Freni in Donizettis „Liebestrank“ vor römischen Mikrophonen. Bald darauf folgte eine Gesamtaufnahme von Lortzings „Undine“, mit der die Electrola ihre Reihe der Spielopernproduktionen über den „Zaren“ hinaus nun doch verlängert (unter Robert Heger singt dabei Gedda den Ritter Hugo, Anneliese Rothenberger die Undine, Prey den Kühleborn, Frick den Kellermeister, Peter Schreier den Veit sowie Sieglinde Wagner und Ruth-Margret Pütz die Marthe und die Bertalda). Unmittelbar daran schloß sich die Produktion der „Madame Butterfly“ mit demselben Team an – fürwahr ein gewaltiges Programm, das die Frage aufwirft, ob ein Sänger damit nicht überfordert wird, ob nicht jeder Sänger bei einer derartigen Beanspruchung doch schließlich trotz bester Vorsätze seine Rollen nur noch mehr oder weniger mechanisch singt, ohne in sie wirklich einzudringen.

 

Tatsächlich mag es, wenn man einige der neuen Aufnahmen mit Gedda hört, für einen aufmerksamen Beobachter einige Anzeichen geben, die auf eine Überlastung hindeuten. Doch es sieht so aus, als würde es vorerst bei diesen kaum merklichen Anzeichen bleiben. Denn Gedda ist ein sehr verantwortungsbewußter Sänger; er verlangt von sich ständige Höchstleistung. Ein Beispiel dafür kann ich aus eigener Erfahrung beisteuern: Während der Aufnahmen zur neuen Angel-Entführung im Februar gelang Gedda die Arie „Constanze, dich wiederzusehen“ nicht auf Anhieb. Nun weiß jeder, der es in der Praxis einmal mit der menschlichen Stimme zu tun hatte, um die vielen Unwägbarkeiten, mit denen sich Sänger herumzuplagen haben. Es „saß“ also diesmal nicht alles; Gedda war nicht ganz in Form, er sang in Kleinigkeiten, die für den Nicht-Kenner und Nicht-Sänger kaum erkennbar waren, nicht ganz so gut wie sonst. Aber er war über die Tatsache, daß sein Organ diesmal nicht absolut zuverlässig war, so deprimiert, daß er, sonst liebenswürdig, verbindlich und aufgeschlossen, gleichsam mit gesenktem Kopf seine Arie noch einmal sang und dann für die Dauer der Sitzung nicht mehr zu sprechen war. Eine Episode am Rande, die aber zeigt, unter welchem nervlichen Druck auch oder gerade Künstler stehen, die zur Weltelite gehören...

Die Gefahren dauernder Schallplatten-Produktion sind also durch die charakterliche Veranlagung Geddas sicher auf ein Minimum beschränkt. Doch erhebt sich die weitere Frage, ob nicht die Studioaufnahme an sich einer intensiven Durchdringung einer Rolle abträglich ist (vor allem, wenn sie nicht im Zusammenhang mit Bühnenaufführungen zustande kommt), weil auf ihr „nur“ die akustische Seite einer Opernfigur zur Darstellung kommt, nicht aber der ganze Mensch verlangt wird. Gedda meinte, als ich mich neulich darüber mit ihm auf dem Weg zum Flughafen Hamburg unterhielt, daß diese Gefahr für ihn nicht gravierend sei. Es sei eben viel leichter, eine Rolle auf der Schallplatte darzustellen, weil das Einstudieren nicht so zeitraubend ist: Man könne die Noten mitlesen, brauche die Rolle also nicht auswendig zu beherrschen, brauche vor allem nicht zu agieren. Man könne sich deshalb ganz auf die Musik und ihren Ausdruck konzentrieren und ihn wiederzugeben suchen.


 
Läßt Gedda in dieser Beziehung auch kaum Grenzen gelten – die natürlichen Grenzen, die ihm wie jedem Sänger durch Stimme und Persönlichkeit gesetzt sind, erkennt auch er selbstverständlich an. Dass er im Februar sich aus dem lyrischen Fach herauswagte und in Stockholm den Lohengrin sang, mit großem Erfolg sang, war ein Vorpreller in die Richtung, die ihm durch die Entwicklung seiner Stimme vorgezeichnet ist. Er betrachtete es vor allem als einen Testfall, der die Frage beantworten sollte, ob es ihm möglich sei, heute Wagner zu singen – wobei man größeren Stimmklang zu produzieren habe und dunkler einfärben müsse – und morgen wieder auf Mozart oder das Lied zurückzuschalten, ein Testfall, der für ihn zufriedenstellend ausgefallen ist, so daß wir wohl für die Zukunft von ihm mehr in dieser Richtung zu erwarten haben. Dennoch: Geddas Domäne wird nach Ausweis seiner Schallplatten vorerst das lyrische Fach bleiben. Partien wie Gounods Faust, der Puccini-Rudolf und der Verdi-Herzog, der Tamino oder der Ferrando in „Cosi fan tutte“, der Don Ottavio oder auch der Postillon scheinen ihm auf den Leib geschrieben zu sein. Die Partien des italienischen Helden, soweit er sie bisher gesungen hat, werden in souveräner Manier gemeistert, aber sie sind eben „nur“ gemeistert, das Gefühl einer Rollen-Identifikation stellt sich nicht ein. Dafür fehlt es Gedda an großer Allüre, an exhibitionistischem Heroismus; man könnte überspitzt sagten, er ist menschlich viel zu sympathisch schlicht, um auch auf diesem Gebiet ein Ideal zu sein.

Die historische Breite des Repertoires? Die Veracini-Arie zu Beginn der Platte „Lieder der Welt“, die ein konzertantes Pendant zum „Opernabend“ darstellt, beweist, daß Gedda ein hinreißender Sänger italienischer Barockmusik sein kann. Er ist aber oft genug auch in modernen Rollen aufgetreten. Die Titelpartie in Strawinskys „Oedipus Rex“ gehörte zu den ersten großen Aufgaben Geddas; er sang ein Jahr später in der Mailänder Uraufführung von Orffs „Trionfo dell’Afrodite“ mit, 1957 half er Liebermanns „Schule der Frauen“ und Barbers „Vanessa“ zum ersten Erfolg führen, 1964 wirkte er bei der Premiere des „Last Savage“ von Menotti mit.

Doch, meint er, auf die Dauer reize es ihn mehr, die großen Rollen des vergessenen älteren Repertoires wie etwa Berlioz’ Benvenuto Cellini wiederzubeleben. Und dann folgt ein Satz, der mir ungemein bezeichnend zu sein scheint und viel von Wesen und Einstellung des 41jährigen Gedda offenbart: „Aber es lohnt oft nicht, moderne Opern zu singen. Die neuen Komponisten wissen meistens nicht für die Stimme zu schreiben. Sie behandeln sie nicht richtig, sie betrachten sie als ein Instrument wie etwa die Geige oder die Posaune. Das geht mir gegen den Strich – denn es ist nicht natürlich...“