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Seine über siebzig Rollen reichen vom russischen
Repertoire - Dimitrij in Mussorgskys Boris Godunow, Leenski in Tschaikowskys
Eugen Onegin und Hermann in Pique Dame -, dessen erster Repräsentant
unter den Tenören er ist, bis zu französischen Partien wie den
Titelrollen in Gounods Faust, Berlioz’ Benvenuto Cellini und Offenbachs
Les contes d’Hoffmann. Er sang italienische hohe lyrische, lyrische und
Spinto-Partien wie den Nemorino in L’elisir d’amore, den Herzog von Mantua
in Rigoletto, Arrigo in I vespri siciliani und Riccardo in Un ballo in
maschera, Mozart-Partien wie den Don Ottavio in Don Giovanni, Tamino in
der Zauberflöte und Belmonte in der Entführung aus dem Serail.
Zu seinem deutschen Repertoire gehörten auch die Titelrolle in Wagners
Lohengrin, Flamand in Richard Strauss’ Capriccio, Huon in Webers Oberon
und Adolar in Euryanthe sowie Barock-Rollen, etwa Admetus in Glucks Alceste,
Orfeo in Orfeo et Euridice und Rénaud in Lullys L’Armide. Außerdem
sang er die Tenor-Hauptrollen in Operetten, darunter Der Zigeunerbaron,
Die lustige Witwe, Das Land des Lächelns, Wiener Blut, Fra Diavolo,
Eine Nacht in Venedig und Die Fledermaus. Auch in zeitgenössischen
Werken übernahm er Rollen: den Anatol in Samuel Barbers Vanessa, Kodanda
in Gian-Carlo Menottis The Last Savage, Paris in Orffs Il trionfo d’Afrodite
und den Tenor-Part in Rolf Liebermanns Schule der Frauen. Wie Gedda mit
berechtigtem Stolz betont, war er „nie zu faul, um irgend etwas Neues einzustudieren,
und dabei haben mir natürlich meine Fremdsprachenkenntnisse geholfen".
Die Rollen, die Gedda sang, waren jedoch nur ein Bruchteil
dessen, was man ihm angeboten hatte. „Und Sie können sicher sein",
sagt Janine Reiss, die ausgezeichnete Korrepetitorin und Begleiterin (die
besonders als Lehrerin des französischen Stils in der Welt ihresgleichen
sucht), „daß man Gedda mit seiner Sprachenkenntnis und seiner fast
grenzenlosen Tessitura praktisch alles angeboten hat."
Als Interpret ist Gedda ein engagierter, absolut überzeugender
Sänger-Darsteller mit einer eindrucksvollen Bühnenpräsenz,
mit Charme, Finesse, Leichtigkeit im Ausdruck und einer lyrischen Stimme
von wunderbarem Schmelz, „von herrlichem Schimmer", wie Geoffrey Parsons
es ausdrückte, „und dazu mit einer unglaublichen Fähigkeit zum
Legato-Singen. Stets spürt man, wie sich der eine Ton in den nächsten
hinüberentwickelt, genau wie bei Kraus, während bei den eher
auf das italienische Fach spezialisierten Tenören der eine Ton eher
in den nächsten hineindrängt, was ein nicht ganz so natürlicher
Vorgang ist. Natürlich kann das sehr aufregend sein, was wiederum
nicht heißen soll, Nicolai sei nicht aufregend. Er ist sogar überaus
aufregend und absolut musikalisch: Abgesehen von dem für seine Stimme
so charakteristischen Glanz, verfügt er auch noch über eine überaus
kultivierte Legato-Linie und Phrasierung und über eine so breite Palette
an Klangfarben, daß es einem manchmal vorkommt, als benütze
er eine ganze Sammlung verschiedener Stimmapparate." Ein weiteres Hauptcharakteristikum
von Geddas Interpretationen ist die vorzügliche Diktion und klare
Artikulation, die daher rührt, daß er so viele Sprachen fließend
spricht; dieser Tatsache schreibt er auch seine Beherrschung so vieler
verschiedener Stile zu.
„Eine gründliche Kenntnis der Sprache jeder Oper,
die wir singen, ist ganz wichtig, nicht nur, damit wir verstehen, was wir
singen, sondern vor allem deshalb, weil der Musikstil sehr viel mit den
Charakteristika der entsprechenden Sprache zu tun hat, und mit einer korrekten
Aussprache löst man schon das halbe musikalische Problem. In der russischen
Oper beispielsweise ist es ganz gleich, was für ein guter Musiker
und erlauchter Sänger man immer sein mag: Wenn man die Sprache nicht
kennt und mit einem ausländischen Akzent singt, dann klingt es einfach
nicht ‘richtig’, und das Ergebnis wird nie wirklich befriedigen. Deshalb
dringe ich bei jungen Sängern immer darauf, daß sie die Sprache
lernen, wirklich lernen, damit sie es richtig machen können. Einen
Akzent loszuwerden ist beim Singen einfacher als beim Sprechen: Man muß
an jedem Vokal, an jedem Konsonanten, an jeder Silbe arbeiten und versuchen,
alles so perfekt wie möglich auszusprechen. Diese Art von Perfektion,
diese ‘Richtigkeit’ ist ein wesentlicher stilistischer Bestandteil jeder
Oper."
Die Basis für Geddas eigene erstaunliche Mehrsprachigkeit
schuf sein Leben selbst. Er wurde 1925 als Sohn einer schwedischen Mutter
und eines russischen Vaters in Stockholm geboren. Seine Tante adoptierte
ihn; ihr russischer Mann, Michail Ustinov, war Mitglied des Donkosakenchors.
Der kleine Nicolai wuchs also bereits in einer zweisprachigen Umgebung
auf. (Gedda ist übrigens der Mädchenname seiner Mutter.) 1929,
als er vier Jahre alt war, zogen seine Eltern mit ihm nach Leipzig, wo
sein Vater Kantor und Chorleiter der dortigen russisch-orthodoxen Kirche
wurde. Dies bedeutete für den kleinen Nicolai, daß zu seinen
beiden Muttersprachen nun auch noch Deutsch hinzukam. Als er fünf
war, brachte ihm sein Vater das Notenlesen bei, und als man erkannte, daß
er eine gute Sopranstimme hatte, begann er in der russischen Kirche bei
einem aus Jungen bestehenden Quartett mitzusingen und seinen Vater zu Festen,
Hochzeiten und anderen privaten Feierlichkeiten zu begleiten, wo sie Balalaika
spielten und russische Volkslieder sangen. Das Singen im A-capella-Chor
förderte die Entwicklung seines Gehörs, denn wie er sagt, ist
er keiner der wenigen glücklichen Sänger, die mit einem absoluten
Gehör geboren wurden. „Manchmal kommt es vor, daß ich ein bißchen
zu tief bin. Ich selbst höre das nicht, aber meistens weist mich jemand
darauf hin, und dann korrigiere ich meine Tonhöhe mit Hilfe der Technik.
Leute mit absolutem Gehör, Elisabeth Söderström beispielsweise,
können gar nicht zu tief singen. Das ist wunderbar und zugleich schrecklich,
weil sie jedesmal Höllenqualen erleiden, wenn sie etwas hören,
das unsauber gesungen oder gespielt wird."
Nachdem Hitler an die Macht gekommen war, zog die
Familie 1934 zurück nach Schweden. Dort besucht der neunjährige
Gedda erst die Realschule und dann das renommierte, altehrwürdige
Södra-Gymnasium, wo er seinem Fremdsprachenschatz Englisch und Französisch
hinzufügte sowie Latein, auf dessen Grundlage er später mühelos
Italienisch lernte.
Er kam spät, mit sechzehn, in den Stimmbruch;
nach zwei Jahren hatte er eine schöne Tenor-Stimme. Er träumte
davon, Opernsänger zu werden, und zwar, angesichts seiner Körpergröße,
Heldentenor. Die beschränkten finanziellen Möglichkeiten der
Familie zwangen ihn jedoch, sich eine normale Beschäftigung als Bankangestellter
zu suchen, nachdem er seinen einjährigen Militärdienst abgeleistet
hatte. In den folgenden fünf Jahren gewann Gedda viele Preise bei
Gesangswettbewerben; das bestärkte ihn in seiner Zuversicht, daß
eine Opernkarriere möglich sei. Er vertraute sich einem seiner Bankkunden
an, der im Orchester der Stockholmer Oper spielte; dieser empfahl ihm,
dem Schweden Karl-Martin Oehmann vorzusingen, einem ehemaligen hervorragenden
dramatischen Tenor, der groß Karriere gemacht, in den zwanziger Jahren
in Berlin an der Städtischen Oper unter Furtwängler, Walter und
Klemperer gesungen hatte und sich inzwischen als Gesangslehrer betätigte.
Gedda sang die Arie des Nemorino „Una furtiva lagrima" aus L’elisier d’amore,
und Oehmann erklärte sich auf der Stelle bereit, ihn als Schüler
anzunehmen.
Als erfahrener Musiker erkannte Oehmann sofort, daß
es sich bei Gedda nicht um einen tenorino, sondern um einen ‘reinrassigen’
lyrischen Tenor handelte. „Denn ich hatte zwar keinen sehr großen
Stimmumfang, aber vokal eine dunkle Färbung, die es mir ermöglichte,
sowohl lyrische, als auch Spinto-Rollen zu singen. Oehmann brachte mir
alle Grundlagen des Tenorgesangs bei, über die ich nicht das geringste
gewußt hatte: Atemstützung, die Notwendigkeit, die Passaggio-Töne
und alle Stimmbereiche, in denen man nicht normal singen kann, ‘abzudecken’,
sowie den Einsatz des Brustkorbs. Er war unglaublich musikalisch und spielte
wunderbar Klavier. Alles, was er mir erklärte, verstand ich sofort,
und ich machte große Fortschritte bei ihm." Nach nur zwei Monaten
als Schüler Oehmanns gewann Gedda das Christine-Nilsson-Stipendium,
das es ihm erlaubte, die Arbeit in der Bank aufzugeben und sich als Vollstudent
in der Opernschule des Stockholmer Konservatoriums einzuschreiben. Man
erkannte sofort, daß er ein überaus vielversprechender Schüler
war, und seine sängerischen Fähigkeiten entwickelten sich so
rasch, daß die Verwaltung der Stockholmer Oper zwei Jahre später,
1952, ihm mit der für einen sehr hohen Tenor geschriebenen Hauptrolle
des Chapelou in Adolphe Adams selten gespielter Oper Le Postillon de Longjumeau
eine Chance zu geben.
Aber noch vor der Premiere ereignete sich etwas für
Geddas Zukunft weitaus Entscheidenderes: Der inzwischen verstorbene Walter
Legge, Leiter des Classical Artists & Repertoire Department von EMI,
hatte eine Aufnahme von Boris Godunow geplant, in der Boris Christoff nicht
nur die Titelrolle, sondern auch die Partien des Primen und des Warlaam
übernehmen sollte; als Dirigenten hatte er Issay Dobrowen gewählt.
Dieser befand sich damals gerade in Stockholm, und da zur Zeit seines Aufenthalts
Legges Frau, Elisabeth Schwarzkopf, ein Konzert gab, beschloß Legge,
sie in die schwedische Hauptstadt zu begleiten und dort mit Dobrowen über
die Schallplattenaufnahme zu sprechen. Am Flughafen erwartete ihn die Presse.
Man frage ihn, ob er während seines Aufenthalts in Stockholm einige
schwedische Sänger vorsingen lassen wollte. Er willigte ein, ohne
darauf gefaßt zu sein, am nächsten Vormittag eine Liste mit
achtzig Namen überreicht zu bekommen. Unter diesen Umständen
bat er den Direktor der Oper um einen Raum für das Vorsingen.
Unter den ersten Bewerbern war ein dünner, junger,
über einen Meter achtzig großer Mann. Legge fragte ihn, was
er singen wolle, und erhielt die Antwort: „’Die Blumenarie aus Carmen’.
Er sang sie mit unglaublicher Klangschönheit - ausgenommen die letzte
Note, die ihm zu laut geriet [in der Phrase ‘Carmen, je t’aime, die pianissimo
anfängt, dann anzuschwellen beginnt und leise endet]. Ich erklärte
ihm, was ich wollte, nämlich daß dem Anschwellen ein Diminuendo
folgen müsse, und bat ihn, die Arie noch einmal zu singen. Wieder
interpretierte er sie wunderschön und machte am Schluß alles
ganz genau, wie ich es vorgeschlagen hatte. Meine nächste Frage lautete,
ob er etwas von Mozart singen könne, und er erwiderte, er habe beide
Arien des Don Ottavio aus Don Giovanni einstudiert. Er sang die beiden
Arien schöner, als ich sie je gehört hatte, wenn man einmal von
Richard Tauber und, auf Platte, von John McCormack absieht. Ich bat ihn,
später an diesem Tag wiederzukommen, denn ich wollte, daß meine
Frau sich ihn anhörte. Sie war genauso fassungslos wie ich. Noch am
gleichen Abend schickte ich zwei Telegramme ab, eines an Karajan und eines
an Antonio Ghiringhelli, den Intendanten der Scala. Sie lautete: ‘Hörte
gerade den größten Mozart-Sänger meines Lebens: Sein Name
ist Nicolai Gedda.’ Da auch sein Russisch ausgezeichnet war, verpflichtete
ich ihn natürlich auch als Dimitrij für die Aufnahme von Boris
Godunow."
Legges Vertrauen erwies sich als in jeder Hinsicht
berechtigt. Die Schallplatte, die 1953 auf den Markt kam, ist nach wie
vor eine der großartigsten unseres Zeitalters. Geddas Stimme ist
in dieser Aufnahme „buchstäblich auf dem Gipfel der Reinheit, süß
und doch prägnant, voll ausgeformt, aber auf einem Luftstrom gleitend,
der scheinbar nie versiegt, und genau auf den russischen Text abgestimmt,
den Gedda viel besser ausspricht als irgend jemand sonst auf dieser Platte",
schrieb ein berühmter Musikkritiker.
Auf Legges Empfehlung hin sang Gedda die Tenorpartie
in Karajans Aufnahme von Bachs h-moll-Messe und debütierte als Don
Ottavio an der Scala. Zur selben Zeit sicherten ihm seine Stimme und seine
Französischkenntnisse einen Dreijahresvertrag mit der Opéra
Paris, wo er 1954 sein Debüt als Huon in Webers Oberon gab. In der
Spielzeit 1954/55 trat er erstmals in Covent Garden auf, und zwar als Herzog
von Mantua. In den zwei Jahren seit seinem Debüt in Stockholm hatte
Gedda also bereits international Karriere gemacht. 1957 debütierte
er als Belmonte bei den Salzburger Festspielen, und im Herbst des gleichen
Jahres sang er zum erstenmal in Amerika: als Faust in Pittsburgh. Einen
Monat später erfolgte in der gleichen Rolle sein triumphales Debüt
an der Metropolitan Opera. Drei Monate darauf, im Januar 1958, sang er
die Tenorhauptrolle, den Anatol, in der Welturaufführung von Samuel
Barbers Vanessa und in mehreren Aufführungen des Don Giovanni den
Don Ottavio. Auf das Publikum der Metropolitan Opera machte er einen so
starken Eindruck, daß er im Laufe der folgenden zwanzig Jahre in
jeder Spielzeit mehrere Male dorthin eingeladen wurde.
Wegen seiner internationalen Karriere konnte Gedda
den Gesangsunterricht bei Oehmann bald nicht mehr regelmäßig
besuchen und war nun sehr darauf bedacht, einen neuen Lehrer zu finden.
„Eine Zeitlang bin ich mir ein bißchen verloren vorgekommen, und
mir wurde ziemlich schnell klar, daß ich jemand anderen finden mußte,
um weiterlernen zu können." Da er nun einen Großteil jeder Spielzeit
in New York verbringen sollte, erschien ihm diese Stadt als der beste Ort,
um auf die Suche zu gehen. Der Dirigent Igor Markevitch empfahl ihm Madame
Paola Novikova, eine ehemalige Schülerin des großen italienischen
Baritons Mattia Battistini und Lehrerin von Irmgard Seefried und George
London. Da Gedda Mr. London kannte (dieser war ‘sein’ Mephistopheles gewesen,
als er den Faust in Pittsburgh sang), bat er ihn um Einführung bei
Madame Novikova. Offenbar fanden die beiden sofort Gefallen aneinander,
und zehn Jahre lang, bis zu ihrem Tod 1967, sollte sie Geddas Lehrerin
sein. Er glaubt, die Tatsache, daß sie eine Schülerin Battistinis
war, sei von großer Bedeutung gewesen, denn „wenn man Battistini
auf Schallplatten hört - er hat bis hoch in die Siebziger gesungen,
und zwar mit immer noch intaktem B, wie mein Vater, der ihn im Konzert
hörte, bezeugt - und wenn ich dann an Novikovas Methode denke, die
ich noch heute anwende und die perfekt funktioniert, dann höre ich
einfach die gute alte italienische Schule, die Schule von Caruso, Gigli
und all den anderen großen Italienern."
Gedda gibt zu, daß kein Lehrer, wie hervorragend
er auch sein mag, für jedermann gut ist, nicht zuletzt deswegen, weil
die Schüler die Lehrer oft mißverstehen. Die berühmtesten
Schüler von Madame Novikova waren Gedda und London; sie verstanden
auch ihre Methode am besten. Gedda meint, das könnte damit zusammenhängen,
daß sie als russische Jüdin den Unterricht auf russisch abhielt.
Sie sprach zwar ausgezeichnet Italienisch, doch ihr Englisch war nicht
besonders gut, was vielleicht auch erklärt, weshalb keiner ihrer jüngeren
Schüler ganz groß herauskam. „Aber wenn man sich London, dessen
Eltern ebenfalls russische Juden waren, der jedoch kein Russisch sprach,
in der Rolle des Boris anhört, sind sein Gesang und seine Aussprache
so vollkommen, daß sogar die Russen glaubten, er sei Russe. Das hat
er alles von Paola Novikova gelernt. So eine Perfektionistin war sie."
Gedda ist der Meinung, daß der Zeitpunkt ihres
Kennlernens entscheidend für seine Zukunft als Sänger gewesen
sei. „Es war genau der richtige Zeitpunkt für mich, jemanden wie sie
zu finden, denn sie gab mir alles, was ich damals brauchte, und half mir,
die schlechten Angewohnheiten loszuwerden, die ich angenommen hatte - bestimmte
Anspannungen, falscher Gebrauch einiger Resonanzräume, ansatzweises
Forcieren der Stimme - und die sich fatal ausgewirkt hätten, wenn
es mir nicht gelungen wäre, sie abzulegen." Kaum waren diese Fehler
behoben, setzten bei Gedda wieder eine Verbesserung und Weiterentwicklung
ein. Madame Novikova hatte auch bemerkt, daß er von einem Unfall
in der Kindheit her eine verengte Nase hatte und operiert werden mußte.
(Beim Spielen in der Schule hatte er einen Kopfstand gemacht; der Junge,
der ihm die Beine halten sollte, ließ sie los, und Gedda landete
auf dem Gesicht. Seine Nase war zwar nicht gebrochen, aber sehr in Mitleidenschaft
gezogen. Der Knorpel begann nach innen zu wachsen, blockierte die Atemgänge
und erschwerte das Luftholen.) Sie leitete alles in die Wege. Der Eingriff
wurde von Dr. Zimmermann in der Nähe von München vorgenommen.
Danach konnte Gedda wieder völlig ungehindert atmen. Man hatte ihn
warnend darauf hingewiesen, daß sich daraus neue akustische Empfindungen
ergeben würden, an die er sich ganz allmählich gewöhnen
müsse; er solle sich Zeit lassen und erst einmal zwei Monate Urlaub
machen. Das war Anfang 1957. Nach und nach begann er wieder zu üben
und gab dann im Sommer bzw. Herbst seine Debüts in Salzburg und an
der Metropolitan Opera.
Im Lauf der folgenden zehn Jahre hatte Gedda dreimal
wöchentlich abends zwischen Proben und Vorstellungen an der Metropolitan
Opera Gesangsstunden bei Paola Novikova. Mit ihr zusammen arbeitete er
alles durch. „Wir bereiteten jede Arie und jede Rolle meines Repertoires
vor - und es lohnte sich! Leider gibt es heutzutage nur noch sehr wenige
Menschen wie sie. Ich habe den Eindruck, daß die Kenntnis der Details,
die das ausmachen, was wir Stimmtechnik nennen, allmählich ausstirbt.
Und das macht mir große Sorgen. Gesangsstudenten und junge Sänger
befinden sich in einem Dilemma, weil man ihnen falsche oder widersprüchliche
Ratschläge gibt, und oft haben sie niemanden, der als Vermittler zwischen
ihnen und der wahren Gesangstradition fungieren könnte. Der einzige
Mensch, den ich kenne, der noch fähig scheint, einigen Leuten zu helfen,
ist Vera Rosza in London."
Wenn junge Sänger sich stilistisch Gespür
und Raffinement erarbeiten wollen, so ist es Geddas Ansicht nach für
sie das beste, Mozart zu singen. „Bei Mozart braucht man keine große
Lautstärke oder Durchhaltevermögen, sondern Musikalität
und stilistisches Gespür. Wenn man Mozart singt, müssen ganz
klar festgelegte musikalische Regeln eingehalten werden: keinerlei Portamenti,
präzise Intonation, klare Linienführung und kontrollierte Lautstärke.
Natürlich ist das alles bei jeder Art von Musik wichtig, aber bei
Mozart eben noch mehr, weil die Sänger sich bei ihm nicht mit den
Dingen behelfen können, die möglich sind, wenn man Puccini singt
und Verdi, auf den es allerdings etwas weniger zutrifft. Es herrscht da
eine Ernsthaftigkeit, Exaktheit, ja fast Strenge, die unbedingt geübt
werden muß, wenn man Mozart singt oder lehrt, wenn man seine Musik
korrekt singen und von ihr lernen will."
Nach seinem endgültigen Abgang von der Bühne
möchte Gedda seine ganze Zeit dem Unterrichten widmen, das er als
eine ‘Privatmission’ bezeichnet. Im September 1984 war er bereits auf Betreiben
des Direktors der Stockholmer Oper in Teilzeitarbeit als Korrepetitor tätig.
Man hatte ihn gebeten, das Ensemble für eine geplante Inszenierung
von Eugen Onegin auf schwedisch vorzubereiten. Gedda willigte ein, bestand
jedoch darauf, daß sein Anteil an der Vorbereitung der drei Hauptdarsteller
nie öffentlich bekanntgegeben werden solle. Er begann in einem kleinen
Kammertheater mit herrlicher Akustik innerhalb des alten Konservatoriumgebäudes
und zeigte sich zutiefst befriedigt, als das Ergebnis seiner Arbeit die
Kritiker zu Kommentaren wie diesem veranlaßte: „Endlich haben wir
eine wahrhaft russische Inszenierung des Onegin, obwohl er auf schwedisch
gesungen wird!" Was offensichtlich heißen sollte, daß die drei
Hauptdarsteller den richtigen Stil getroffen hatten.
Genau das hatte Gedda bei dieser schwierigen Aufgabe
angestrebt. Er betonte von Anfang an, er werde, da es seine momentanen
beruflichen Verpflichtungen nicht erlaubten, über einen längeren
Zeitraum hinweg mit den Sängern zu arbeiten, keinesfalls versuchen,
ihre Gesangstechnik radikal zu verändern. Dies hätte wohl auch
nur Verwirrung gestiftet und sich im Hinblick auf die laufenden Engagements
der Künstler sogar gefährlich ausgewirkt. „Aber ich erklärte
mich bereit, wenigstens einige technische Dinge zu erklären, die sich
in der zur Verfügung stehenden Zeit erfassen ließen und die
Technik der Sänger verbesserten, ohne daß diese ihre Singweise
völlig neu überdenken mußten. Der Bursche beispielsweise,
der den Lenski sang, konzentrierte sich nicht gut genug auf das korrekte
Funktionieren all der verschiedenen Teile seines Stimmapparats. Der Stimmapparat
besteht nicht nur aus den Stimmbändern und der Kehle, sondern auch
aus der Brust, dem Zwerchfell, dem Brustkorb, den Muskeln, die man einsetzen
muß, aus den Anspannungen, die man lösen muß, und aus
den Resonanzkörpern Kopf und Brust. Die Brust ist wie der Korpus eines
Cellos, voller Resonanz, und man muß sie kontrollieren und auf der
Bühne vollen Gebrauch von ihr machen; dort sollte sie ständig
hoch gehalten werden, ganz besonders, wenn man die Tonleiter zu den tieferen
Noten hinabsteigt. Wenn man sie nämlich einsinken ließe, würde
ein Großteil ihrer Funktion als Resonanzkörper verlorengehen.
Ich habe ihnen auch den richtigen Umgang mit den Resonanzräumen des
Kopfes gezeigt und auch, wie sie ihre Zähne korrekt gebrauchen müssen
und wie sie den Unterkiefer lockern - denn viele Sänger geraten wegen
ihres verspannten Kiefers in Schwierigkeiten. Diese technischen Probleme
konnten ohne Bedenken behandelt werden, weil die Sänger, nachdem ihnen
alles bewußt geworden war, selbst an den Korrekturen arbeiten konnten,
ohne daß dadurch ihre ursprüngliche Gesangstechnik nachteilig
beeinflußt wurde. Ganz im Gegenteil."
Was die Interpretation des Lenski betraf, eine von
Geddas berühmtesten Partien, so erklärte er dem jungen Tenor,
er sehe in Lenski, „diesem Dichter, diesem romantischen Mann mit der typisch
russischen Seele, melancholisch und doch hitzig, temperamentvoll und leicht
erregbar", Puschkin selbst. „Genau wie er selbst, ist auch Lenski ein Opfer
seiner übertriebenen Eifersucht und seiner Neigung, vieles mißzuverstehen.
Er bauscht die Bedeutung eines alltäglichen Ereignisses auf, indem
er Onegins harmlosen kleinen Flirt mit seiner Verlobten Olga bei Tatjanas
Namenstagsfeier als eine Ehrverletzung auffaßt. Puschkin selbst geschah
das gleiche; allerdings ist es möglich, daß der Zwischenfall
damals absichtlich - von Hofkreisen, die ihn beneideten und haaßten
- arrangiert wurde, um ihn zu einem Eifersuchtsausbruch wegen seiner schönen
jungen Frau zu provozieren. In der Duellszene herrscht dann die typisch
russische resignative Stimmung, das Gefühl der Unausweichlichkeit
des Todes ... Wieder genau wie bei Puschkin."
Nachdem Gedda seine darstellerische Interpretation
analysiert hatte, begann er dem jungen Tenor alle Stilelemente zu zeigen,
die den russischen Stil ganz allgemein und Tschaikowsky im besonderen charakterisieren.
Der Dirigent, Juri Ahronowitsch, der sich über das Ergebnis der Arbeit
begeistert zeigte, sprach kein Schwedisch - mit dem Orchester verständigte
er sich auf deutsch -, und wie Gedda zu Recht betont, „muß irgend
jemand den Sängern diese stilistischen Einzelheiten sagen. Ich zeigte
ihm also, wie man ein Diminuendo singt, denn die Rolle wurde zwar auf schwedisch
gesungen, aber die Phrasierung blieb die gleiche: Es ist und bleibt Tschaikowskys
Phrasierung, die immer vom Rubato abhängt. Tschaikowsky kann man nicht
auf konventionelle Weise singen. Man muß wissen, was man sich alles
erlauben kann - wo man atmen darf und wo nicht in diesen langen Legato-Phrasen.
Und der junge schwedische Sänger wußte es natürlich nicht.
Es gibt nämlich bestimmte Dinge, die die Jungen immer machen, wenn
sie es mit langen Phrasen zu tun haben: Sie pressen bestimmte Silben hervor,
die nicht hervorgepreßt werden dürfen, weil jede Silbe Teil
der Phrase, Teil der langen russischen Legato-Linie ist. Wenn man den Lenski
auf schwedisch singt, muß man die Akzente trotzdem auf dieselben
Silben setzen, wie wenn man sprechen würde. Und wenn Komponisten,
wie es manchmal vorkommt, eine hohe Note auf eine unbetonte Silbe schreiben,
dann darf man sie auch nicht betonen, sondern muß sie leicht singen.
Selbstverständlich habe ich seine Aufmerksamkeit auch auf die Nuancierung
und die Dynamik gelenkt. Aber das wichtigste beim russischen Gesang ist
der Umgang mit dem Rubato, denn das Rubato ist das Wesentliche des russischen
Stils."
Gedda ist, neben Alfredo Kraus, auch einer der beiden
Hauptvertreter des französischen Stils. Laut Janine Reiss besitzt
er die ideale französische Stimme, die „ein Timbre haben sollte, das
warm und abgerundet genug ist, um die Stimme schön klingen zu lassen,
aber im Vergleich zu einer italienischen Stimme, wie etwa der von Bergonzi,
sollte sie ein bißchen weniger sonnig, also auch weniger warm sein.
Das Timbre einer typisch ‚französischen‘ Stimme sollte, so wie es
die des verstorbenen Georges Thill tat, sofort eine Landschaft der Île
de France vor dem geistigen Auge des Zuhörers entstehen lassen. Für
mich steht zweifelsfrei fest, daß unter den lebenden Tenören
Gedda der ideale Sänger für das französische Repertoire
ist.“
Sowohl Gedda als auch Janine Reiss betonen, daß
französische Opern anders gesungen werden müssen als Verdi oder
Puccini. Der französische Stil ist reiner, erlaubt keine Portamenti,
sollte aber dennoch „nicht zu akademisch gesungen werden, denn dann würde
daraus Mozart werden“ (Domingo macht in seinem Kapitel dieselbe Bemerkung
über den französischen Gesangsstil). „Aber die Hälfte aller
Probleme des französischen Stils ist in der Sprache begründet.
Sie ist schwer zu beherrschen, und nur wenige ausländische, vor allem
angelsächsische Sänger – mit Ausnahme des britischen Baritons
Thomas Allen – schaffen es jemals. Das ist auch der Grund, weshalb das
Resultat oft peinlich ist, obwohl einige von ihnen sehr schön singen.
Die Franzosen – sie mögen mir verzeihen! – sind in diesem Punkt oft
sehr nachsichtig, aber sie sollten es nicht sein. Es gibt keinen Grund,
weshalb Ausländer kein Französisch lernen könnten. Hören
Sie sich an, wie Caruso das französische Repertoire sang. Es ist perfekt
– und er war Neapolitaner! Aber anders als Gigli, dessen Französisch
alles andere als vollkommen war, hat Caruso offensichtlich daran gearbeitet.
Anders geht es nicht. Alle stilistischen Nuancen und Details lassen sich
letztendlich auf eine einzige Frage reduzieren: Ist man bereit zu arbeiten,
zu arbeiten und nochmals zu arbeiten? Man muß sich als den Diener
des Komponisten betrachten und so lange arbeiten, bis man alle Schwierigkeiten
des Stils erfaßt hat.“
Zum Teil hat Gedda sein perfektes Französisch
der Tatsache zu verdanken, daß diese Sprache das einzige Schulfach
war, in dem er versagt hatte. Er war also gezwungen, sich intensiv vor
allem mit der Aussprache zu beschäftigen, bis er alles beherrschte.
Im Verlauf dieser Studien entwickelten sich bei ihm so viel „Respekt und
Liebe“ für diese Sprache, daß er bei seiner ersten Reise nach
Paris – 1952 für die Schallplattenaufnahme von Boris Godunow – „kaum
sprechen konnte vor lauter Nervosität, weil ich Angst hatte, Fehler
zu machen“. Ganz allmählich wurde er mutiger, und heute spricht er
so fließend Französisch, daß Kritiker schrieben, seine
Artikulation auf der Bühne sei besser als die der meisten französischen
Sänger.
Gedda hat im Grunde das gesamte französische
Tenor-Repertoire gesungen: von hohen lyrischen Partien wie dem Nadir in
Les pêcheurs de perles, Gérald in Lakmé, Vincent in
Mireille und Des Grieux in Manon über lyrische Rollen, etwa die Titelpartien
in Werther und Faust, bis hin zu dramatischen – Don José in Carmen
und die Titelrolle in Les contes d’Hoffmann beispielsweise. Außerdem
sang er den Faust in Berlioz‘ La damnation de Faust. Eine seiner liebsten
französischen Rollen ist jedoch Cellini in Berlioz‘ selten aufgeführter
Oper Benvenuto Cellini, den er erstmals 1961 beim Holland Festival, 1964
in Genf und 1966 in der berühmten Neuinszenierung in Covent Garden
sang, die dann 1969 wiederaufgenommen und 1976 anläßlich der
Zweihundertjahrfeier in der Scala gezeigt wurde.
Der Zeitschrift Opera gegenüber sagte Gedda einmal,
seit er sich – noch vor dem Holland Festival 1961 – mit dieser Bühnenfigur
beschäftigte (er fuhr eigens nach Florenz, um sich das Originalmanuskript
von Cellinis Autobiographie sowie die Skulpturen des Künstlers anzusehen),
sei er überaus fasziniert von dem italienischen Bildhauer und Goldschmied,
der im sechzehnten Jahrhundert lebte, immer wieder erstaunt über die
Extreme seines typischen „Renaissance-Charakters“, zu dem sowohl eine große
Liebesbereitschaft als auch die Fähigkeit zum brutalen Mord gehörten.
Beeindruckt war er auch davon, daß man Cellinis Autobiographie für
so wichtig erachtete, daß kein Geringerer als Goethe sie ins Deutsche
übersetzte. Aber so faszinierend diese Gestalt auch sein mag, die
Oper als Ganzes ist Geddas Meinung nach dramatisch nicht ausgewogen genug,
besonders im ersten Akt, mit dem Berlioz selbst alles andere als zufrieden
war. „In Hinsicht auf die Dramatik kamen seine musikalischen Absichten
nicht zum Tragen. Es gibt Intrigen, Cellini schleicht sich heimlich in
das Haus Beluccis, um seine Geliebte, Teresa, zu besuchen, und findet seinen
Rivalen Fieramosca hinter einem Wandschirm versteckt. Als ich die Partie
zum ersten Mal sang, in Holland, basierte die Aufführung auf einer
stark gekürzten Choudens-Ausgabe. In London beschloß Colin Davis
klugerweise, einige Kürzungen rückgängig zu machen, und
er erzielte dadurch ein viel harmonischeres Ergebnis.“
Musikalisch betrachtet, findet Gedda die Rolle „wunderbar
ausgewogen und für einen hohen Tenor wunderbar komponiert, mit einer
kontinuierlichen Entwicklung bis hin zum Höhepunkt in der letzten
Szene, wo Cellini dem Papst gegenübertritt: Erst findet die Andacht
statt, und dann kommt es zu der dramatischen Enthüllung der Perseus-Statue.
Vom Stilistischen her ist Berlioz ein sehr italienischer Komponist, der
die italienische Oper liebte und dessen Umgang mit der Stimme einem alle
Möglichkeiten des italienischen Stils bietet – von langen Legato-Linien
bis zu Arien, die in hohen Tönen, oft in hohen Cs, gipfeln. Vom Gesanglichen
her ist es also eine wunderbare Tenor-Partie.“
Die Rolle des Cellini gilt als stimmlich so schwierig,
daß es außer Gedda in der Tat keinen lebenden Tenor gibt, der
sie singen kann. Deshalb kam es auch seit 1976 zu keiner Inszenierung dieses
Werks mehr. Gedda fand die Partie angenehm, weil, wie es Luciano Pavarotti,
selbst ein Tenor der hohen Töne, es ausdrückt, „kein lebender
Tenor in der hohen Lage eine solche Mühelosigkeit zeigt wie Gedda“.
Janine Reiss widerspricht Geddas Charakterisierung als „wunderbar komponiert“
und gibt zu bedenken, daß Berlioz‘ Werke für die Stimme generell
nicht gut geschrieben seien. Dies gelte für La Damnation de Faust
ebenso wie für Benvenuto Cellini. „Man kann sagen, die einzige Möglichkeit,
eine dieser Opern aufzuführen, besteht darin, daß man Gedda
engagiert. Sein Stil und seine Meisterschaft erlauben es ihm, mit der mörderischen
Tessitura dieser Werke mühelos fertig zu werden.“ (Es stimmt, daß
in allen Aufführungen von La Damnation de Faust, die ich in den letzten
Jahren gesehen habe – im Winter 1983 in Boston und New York und im Herbst
1984 in Paris –, Gedda den Faust sang.) Gedda findet, die beiden Opern
hätten viele Gemeinsamkeiten, allerdings sei Faust in La Damnation
de Faust keine so exponierte Rolle und auch nicht so brillant komponiert
wie Benvenuto Cellini. Aber sie ist gut eingeteilt und viel einfacher.
Deshalb kann ich sie immer noch singen.“
Eine weitere französische Lieblingspartie Geddas
– und eine, für die er zu Recht berühmt wurde, ist die Titelrolle
in Gounods Faust. Er sagt, er fühle sich immer von „interessanten,
psychologisch komplizierten“ Charakteren angezogen, und seine brillante,
ganz und gar überzeugende Darstellung dieser Gestalt brachte ihm die
Bezeichnung „Faust aller Fausts“ ein. Geddas Stimme weist sowohl das sinnliche,
strahlende Timbre auf, das man für den jungen Faust braucht, als auch
das stimmliche Gewicht für die mehr baritonale Tessitura des alten
Faust im Prolog, die Kraus einige Schwierigkeiten bereitet, wie er selbst
in seinem Kapitel darlegt. Was den dramatischen Aspekt betrifft, so haben
für Gedda Gounods Faust und das Drama von Goethe nur wenig gemeinsam.
„Die Handlung ist in der Oper verdichtet, auf ganz bestimmte Szenen konzentriert
und sehr simpel. Alles, der ganze Gehalt, liegt in der Musik, in Gounods
wunderschöner Musik, in den Arien und Duetten. Die Rolle ist nicht
schwer zu singen. Da ist das ziemlich exponierte hohe C am Ende der Arie
‚Salut demeure‘, aber wenn der Tenor ein hohes C schafft – und wenn er
es nicht schafft, sollte er den Faust nicht singen oder eben abwärts
transponieren –, dann dürfte es ihm keine Probleme bereiten.“
Gedda hat bezüglich Transpositionen keine so
dogmatische Meinung wie Alfredo Kraus, für den sie ein absolutes Tabu
darstellen. Angesichts seiner Höhe mußte Gedda kaum je etwas
transponieren – die einzige Ausnahme, die einem einfällt, ist die
ungekürzte italienische Version von Rossinis Guillaume Tell in Florenz,
die kein heutiger Tenor je in ihrer Original-Tessitura auf der Bühne
gesungen hat –, aber seine Flexibilität in dieser Frage stammt aus
der Zeit, als er Jussi Bjoerling bei dessen Comeback den Faust in der Metropolitan
Opera singen hörte. „Er war damals schon älter und transponierte
die Rolle einen Halbton abwärts. Aber wenn man dann so schön
singt wie er in dieser Vorstellung – was soll’s? Die Pariser Oper gestattet
allerdings keine Transpositionen und erlaubte sie ihm auch nicht, als man
ihn für die Rolle des Faust unter Vertrag nahm. Er wurde immer nervöser
und trank immer mehr, mit dem Ergebnis, daß er den Faust in Paris
nie sang. In diesem Fall waren ohne Zweifel die Pariser die großen
Verlierer!“ Auch Alfredo Kraus ist der Meinung, daß es außergewöhnlichen
Darstellern, die ihr ganzes Leben lang die Rollen in ihrer Original-Tessitura
gesungen haben und das nun ihres Alters wegen nicht mehr können, erlaubt
sein sollte, abwärts zu transponieren. „Bei solchen Sängern kann
und sollte man wohl auch eine Ausnahme machen“, meint er.
Eine der wenigen Partien, die sogar Gedda als schwierig
empfindet, ist die Titelrolle in Les contes d’Hoffmann. Vom dramatischen
Standpunkt aus fühlt er sich zu diesem Charakter sehr hingezogen;
er hält ihn für ebenso kompliziert wie Dimitrjij in Boris Godunow
oder Faust und stimmt mit Domingo darin überein, daß die Oper
einen Verfallsprozeß beschreibe. Die Gründe, weshalb die Rolle,
obwohl gut eingeteilt, gesangstechnisch so schwierig ist, sind folgende:
Zunächst einmal ist der Tenor eigentlich die ganze Zeit auf der Bühne
und muß für jeden der drei Akte sowie für Vor- und Nachspiel
jeweils eine andere Stimmfärbung benutzen; zweitens muß er sich
sofort nach seinem ersten Auftritt an die schwierige Kleinzack-Ballade
wagen, ohne sich vorher warmsingen zu können; und drittens verlang
der Giulietta-Akt – gesangstechnisch der schwierigste Akt (der Geddas wie
auch Domingos Meinung nach immer als letzter, nach dem Antonia-Akt kommen
sollte) – am Ende eines langen Abends, wenn der Tenor bereits müde
ist, die vollste Stimme.
Das warme, sinnliche Timbre von Geddas Stimme, seine
makellose Diktion und die Fähigkeit, lange Legato-Linien zu singen
– wie man sie in seinen russischen Rollen bewundern kann –, machen ihn
auch zu einem hervorragenden Interpreten italienischer Oper, sowohl des
Belcanto (Edgardo, Nemorino) als auch von Verdi (Alfredo, Herzog von Mantua,
Arrigo und Riccardo) und Verismo-Partien (Pinkerton, Rodolfo). Aus allen
diesen Interpretationen ragen die des Nemorino und des Rigoletto-Herzogs
heraus; letztere galt sogar in einer Zeit, die sich so exemplarischer Herzöge
wie Carlo Bergonzi und Alfredo Kraus rühmen konnte, als stimmlich,
stilistisch und darstellerisch außergewöhnlich gut. Zu meinem
großen Bedauern habe ich Gedda in dieser Rolle nie gesehen. Wir,
die wir in einer Zeit leben, in der nur noch sehr wenige Tenöre diese
Partie singen können (Pavarotti ist dazu offenbar nicht mehr in der
Lage, auch Domingo hat sie schon seit geraumer Zeit nicht mehr übernommen,
und Araiza hat sie erst vor kurzen in sein Repertoire aufgenommen, laut
Aussagen der Züricher Kritiker mit Erfolg), wir können also die
Menschen, die in jenen glücklichen Jahrzehnten aufwuchsen, nur beneiden.
Geddas Nemorino, den ich 1982 in Covent Garden sah,
stellte in der Tat eine Lektion in Belcanto dar. Sein Vortrag „Una furtiva
lagrima“ machte verständlich, weshalb die berühmten Baritone
Renato Capecchi und Mario Sereni, die den Dulcamara beziehungsweise den
Belcore sangen, Gedda 1966 während der Schallplattenaufnahme in Rom
am Ende seiner Arie auf die Schulter klopften und sagten: „Nicolai, primo
tenore!“, woraufhin ein Orchestermitglied ausrief: „Seit Gigli hat niemand
diese Arie so gesungen!“ Gedda erklärt, daß er den Nemorino,
eine typische Belcanto-Rolle, immer gern singe, „weil es für die Stimme
der reinste Balsam ist, obwohl jeder, der diese Partie singt, ohne über
eine gute Technik zu verfügen, sich wahrscheinlich selbst strangulieren
würde, denn sie ist größtenteils im Passagio-Bereich angesiedelt.
Nemorinos Duett mit Dulcamara beispielsweise ist durchgängig in F,
Fis und G, was bedeutet, daß man die Kehle ein wenig schließen
muß. Ich erinnere mich, wie Cesare Valletti – ein guter Stilist mit
schöner Stimme, ein großartiger Almaviva und ausgezeichneter
Nemorino – in der Metropolitan Opera mitten in der Vorstellung mit dieser
Rolle scheiterte, weil er alles offen sang; er konnte nicht weitermachen.
Leider hat er sich von diesem Schlag nie so recht erholt und trat nie wieder
in der Met auf. Das sollte jungen Sängern eine Lehre sein; sie müssen
lernen, die Passagio-Töne immer ‚abzudecken‘, indem sie die Kehle
schließen.“ (Alle Tenöre, mit denen ich mich unterhielt, stimmten
in diesem grundlegenden technischen Problem miteinander überein.)
Was die darstellerische Seite betrifft, so ist Gedda
der Meinung, der Nemorino solle als „sehr naiv und ein bißchen einfältig“
dargestellt werden. „Aber wenn man zuviel herumkaspert, fällt es dem
Publikum schwer zu glauben, daß Adina sich in ihn vernarrt; andererseits,
wenn er in seinem ganzen Leben nie einen Tropfen getrunken hat, wie er
in der Szene mit Dulcamara beweist, muß er ja wirklich ein bißchen
einfältig sein! Vielleicht habe ich dieses Element in meiner Interpretation
hin und wieder etwas übertrieben. Aber die Partie ist schließlich
auf Heiterkeit hin angelegt. Das Ganze soll nicht fade sein, sondern lustig!“
Gedda hält das Italienische für die ideale
Singsprache, weil es viele offene Vokale und nur wenige Konsonanten am
Ende von Silben aufweist. Das Französische kommt trotz der Komplikation
durch dir nasalen Silben diesem Ideal nahe, während Englisch, genau
wie Deutsch und Geddas Muttersprache Schwedisch, keine gut zu singende
Sprache ist. Als Gedda 1958 in der Metropolitan Opera den Anatol in Samuel
Barbers Vanessa sang, erwies sich sein Englisch als klarer, perfekter ausgesprochen
und besser verständlich als das aller amerikanischen Sänger im
Ensemble. In einem Interview mit der New York Times erklärte er, dies
liege möglicherweise daran, daß englischsprachige Sänger
glaubten, wer Englisch spreche, könne es auch ohne weiteres singen,
was nicht unbedingt der Fall sei. (Thomas Allen ist der gleichen Meinung.)
„Man muß daran arbeiten wie an jeder anderen Sprache, besonders an
den unangenehmen Diphthongen, diesen Mischungen aus zwei oder mehr Vokalen,
und man muß die Vokalformung betonen, ohne dabei die Endkonsonanten
zu vergessen. „Was das lästige R angeht, so spricht Gedda sich dafür
aus, es „stark und gut hörbar“ zu rollen, denn es gehe darum, verstanden
zu werden, und nicht darum, ein dem gesprochenen Englisch vergleichbares
Resultat zu erzielen.
Eine Abhandlung über Gedda als Gesangskünstler
bliebe unvollständig ohne die Erwähnung eines Genres, in dem
ihn kein lebender Tenor – und unter den toten großen Sängern
einzig Richard Tauber – übertrifft: die Operette. Eine ganze Reihe
erstklassiger EMI-Aufnahmen unter der Leitung des verstorbenen Walter Legge
– darunter Die Fledermaus, Der Zigeunerbaron, Eine Nacht in Venedig, Das
Land des Lächelns, Die lustige Witwe – zeugen von seiner großen
Leistung auf diesem Gebiet und gelten heute als Schallplatten-„Klassiker“.
Sie wurden alle zwischen 1952 und 1954, kurz nach Geddas professionellem
Debüt an der Stockholmer Oper, aufgenommen, als er etwa siebenundzwanzig
Jahre alt war. Daß er bereits zu einem so frühen Zeitpunkt im
Verlauf seiner Karriere diese Chance bekam, erschien ihm „wie ein Wirklichkeit
gewordener Traum“. Laut Walter Legge wurde Gedda in jenen zwei Jahren „zum
Meister dieser Gattung“, und die Aufnahmen ernteten großen Beifall
von seiten der Kritik. Besonders Geddas Interpretation des Prinzen Sou
Chong in Das Land des Lächelns wurde beschrieben als „nicht nur makellos
schön gesungen, sondern auch mit einem Schmelz, einem Glanz, einer
Mischung aus Charme und Brillanz, wie man sie bisher nur äußerst
selten in einer Aufführung erlebte, ganz zu schweigen vom Plattenstudio“.
Mit sichtlich tiefempfundener Dankbarkeit erzählt
Gedda, daß er seine stilistische Meisterschaft ausschließlich
Walter Legge zu verdanken habe, der ihm beibrachte, daß man, wenn
man Operette singen will, „Phantasie braucht, die richtige Phrasierung
und die Fähigkeit, mit Wörtern und Klangfarben zu spielen. Das
alles habe ich von ihm gelernt“ erklärte er nach Legges Tod 1980 gegenüber
Opera News. „Er war nicht nur ein großartiger Schallplattenproduzent,
sondern auch ein großartiger Musiker mit außerordentlichen
Kenntnissen, was Phrasierung und Stimmtechnik anbetrifft. Er hat mich immer
da und dort korrigiert, indem er vorschlug, ich solle in diese Phrase mehr
legato legen oder dort eine winzige Tonveränderung herausarbeiten.
Alles, was er mir sagte, war sehr konstruktiv. Er beaufsichtigte die gesamten
Vorbereitungen und Proben für alle Aufnahmen, arbeitete an jeder Phrase,
an jedem Detail unserer Interpretationen. Bei ihm gab ich immer mein Bestes
und war offen für Vorschläge, und anders als die meisten jungen
Sänger von heute, kam ich nie auf meine eigenen Argumente zurück.
Ich war jung und wußte nur sehr wenig, und alles, was er mir sagte,
nahm ich in mich auf und befolgte es. Und ich habe es nie bereut! Heutzutage
gibt es diese Art von intensiver musikalischer Vorbereitung im Grunde überhaupt
nicht mehr, vor allem nicht bei Aufnahmen, bei denen der Dirigent und viele
Sänger vom Blatt lesen. [Das stimmt wirklich. Nur wenige Dirigenten
– Karajan und Kleiber zum Beispiel – verbieten es.] In gewisser Hinsicht
ist es ja verständlich, daß man heute nicht mehr so arbeiten
kann wie früher – das hängt mit den gestiegenen Kosten zusammen,
mit den Terminkalendern der Sänger, dem Zeitmangel und dem Druck,
unter dem die Dirigenten arbeiten. Aber ich befürchte eben, daß
den Plattenaufnahmen dadurch etwas verlorengegangen ist – genauso wie es
den meisten Live-Aufführungen abhanden kam.“
Gedda hält Maria Callas für die letzte wahrhaft
große Sänger-Darstellerin, und wie bereits erwähnt, ist
er von vielem, was er heutzutage auf der Bühne sieht, enttäuscht.
Abgesehen von ungenügend vorbereiteten Sängern mit dem falschen
Repertoire, sind es in seinen Augen die heutigen Produzenten, die wesentlich
zum Absinken des Gesangsniveaus beigetragen haben. Er nennt sie „eine richtige
Plage – unmusikalisch, ja, schlimmer noch: anti-musikalisch!“ Er räumt
ein, daß es einige bemerkenswerte Ausnahmen gibt, betont jedoch,
in den letzten Jahren habe er es zum Teil mit Produktionen zu tun gehabt,
„die man nicht für möglich halten würde“, auf die Bühne
gebracht von Produzenten, die die Anweisungen des Komponisten in der Partitur
völlig ignorierten. Er war oft nahe daran, das Theater unter Protest
zu verlassen; nur das reine Berufsinteresse und der Gedanke an die Probleme
und Kosten, die eine solche Reaktion für das jeweilige Theater mit
sich bringen würde, hielten ihn davon ab. Inzwischen fordert er das
Recht zur Begutachtung des Produzenten und dessen Interpretationskonzepts
sowie des Bühnenbilds und der Kostüme, bevor er einen Vertrag
unterzeichnet. „Anders geht es nicht.“
Heute verwendet Gedda mehr Arbeitszeit auf Konzerte
als auf Opernvorstellungen. Er ist ein überaus gebildeter und belesener
Mann, ein Kenner der bildenden Kunst und hat viele außerberufliche
Interessen. Opera gestand er, den größten Spaß bereiten
ihm Zoobesuche. „Tiere mag ich am liebsten. Ich hätte gern eine ganze
Menagerie zu Hause. Aber leider bin ich nicht oft genug daheim [„daheim“
ist ein großes Haus am Stadtrand von Stockholm, wo er mit seiner
zweiten Frau, der Griechisch-Amerikanerin Anastasia wohnt], als daß
ich mich richtig um sie kümmern könnte. Eigentlich bin ich ein
Stubenhocker, ein Krebs, und das größte Vergnügen bereitet
es mir, daheim zu sein und es mir vor dem Fernseher bequem zu machen. Ich
freue mich schon darauf, eines Tages öfter zu Hause zu sein.“
Zufrieden blickt er auf seine lange und erfolgreiche Karriere zurück. „Ich bin mir bewußt, daß der Beruf des Sängers und die Fähigkeit, dem Publikum das Beste zu geben, eine große Verantwortung darstellen. Man muß sich in guter körperlicher Verfassung befinden und sehr diszipliniert sein. Ich wünschte mir immer eine lange Karriere – nichts Kurzes, Strahlendes, Callasartiges, sondern eine lange, solide, schöne Karriere und die Befriedigung, zu wissen, daß die Leute, die in meine Vorstellungen kommen, immer noch zufrieden und innerlich reicher nach Hause gehen. Das ist stets mein Ideal gewesen. Deshalb habe ich auf mich geachtet und gewisse Opfer gebracht. Das muß man eben tun, wenn man sich behaupten will.“