Zur Startseite
Artikel

Vom Glück der Beständigkeit

Zur Karriere des Tenors Nicolai Gedda
von Ulrich Schreiber



Mit der Eigengesetzlichkeit des Mediums Schallplatte ist es manchmal eine merkwürdige Sache. Jedenfalls ertappte ich mich kürzlich bei dem Gedanken, einmal anhand eines Liederabends von Nicolai Gedda „live“ kontrollieren zu wollen, ob die wenigen, aber stimmlich erstaunlich frischen Platten aus seiner letzten Zeit den Vergleich mit der Wirklichkeit aushielten.
Nun sind gerade im Tenorfach die Mikrophonkarrieren keine Seltenheit: Joseph Schmidt, Mario Lanza und in gewisser Weise auch Rudolf Schock haben bewiesen, daß die massenmediale Verbreitung von Gesangskunst eine eigene Realität gewinnen kann. Im Fall von Nicolai Gedda kann das aber keineswegs behauptet werden; da war ich aufgrund eigener „Live“-Erlebnisse eher zu der Meinung gekommen, daß das Mikrophon (was vor allem für eine ganze Reihe von EMI-Aufnahmen aus den sechziger Jahren gilt) ihm nicht immer Gerechtigkeit hatte angedeihen lassen.
In der Düsseldorfer Tonhalle nun sang Gedda (entsetzlich „begleitet“ von Jan Eyron) am 15. Februar dieses Jahres in der ersten Hälfte 
Hugo-Wolf-Lieder nach Mörike, Eichendorff und Goehte – ein gemischtes Programm trotz der Fixierung auf einen Komponisten, aber auch ein tückisches. Spätestens beim vierten Lied, der „Verschwiegenen Liebe“ Eichendorffs, gingen mir die Ohren sozusagen über, und ich fragte mich: Gibt es das überhaupt noch? Ein Tenor, der im ganzen Lied nicht einen reinen Brustton einsetzt, sondern zwischen Kopftimbre und Voix mixte wechselt, wobei er den harmonischen Übergängen von h-moll nach Fis-dur und D-dur jeweils eine andere Farbe gibt und die exponierten Töne auf den „schwierigen“ Vokalen und Diphthongen (i, ö) mirakulös „abrundet“ – gibt es das wirklich noch? Dann die andere Seite, in Mörikes Kritikerverabschiedung des „Abschied“: eine rhythmisch perfekte Deklamation, immer aus dem Geist der Musik kontrolliert (und nie wie bei Fischer-Dieskau durch die Überbetonung des Textes dem Gesamtkunstwerk aus Klang und Sinn sein Geheimnis nehmend), zudem geradezu explosionsartige Konsonantenschärfe beim Treppensturz, ehe der köstliche Walzerrhythmus erreicht wird: mirakulös.

 




 
Ich will hier nicht, in Konkurrenz mit dem Tageszeitungskritiker, einen Liederabend rezensieren, aber manchmal braucht man solche Anlässe, um sich der eigenen Beurteilungskriterien wieder sicher zu sein. Vier Liszt-Lieder sang Gedda nach der Pause, in „Comment, disaient-ils?“ mit einem perfekten hohen C in der Voix mixte, schließlich – auf tschechisch – die „Zigeunerlieder“ Dvoráks: ein Programm weitab des normalerweise Gebotenen, zudem eines, das in den vier benutzten Sprachen (ein Glinka-Lied sang er als Zugabe russisch) genau ausgehört und immer von der Musik gesteuert war. 
Was mir die Erfahrung dieses Liederabends jenseits der augenblicklichen Glücksgefühle so wichtig machte, daß ich hier davon berichte, war zweierlei: einmal die Tatsache, daß über musikalische Interpretation zu reden erst sinnvoll ist, wenn das jenseits der Erörterung technischer Defekte geschieht (und in der Beziehung ist Gedda in viel stärkerem Maße als die Domingo, Carreras & Co., die heute die Marktlage bestimmen, ein „König“ unter den Tenören); zum anderen, daß Gedda auch nach dreißig Jahren der Karriere keinerlei stimmliche Verschleißerscheinungen aufweist.
Solch beständiges Glück des Kunstsingens ist natürlich nicht mit einem Lottogewinn zu vergleichen, eher noch seltener, sondern kausal auf glückverheißenden Voraussetzungen aufgebaut. Zu denen gehört einmal die Herkunft Geddas, die auf seiten des Vaters (er war von 1928 bis 1934 in Leipzig Kantor an der russisch-orthodoxen Kirche) für die musikalische Anlage sorgte, auf seiten der (schwedischen) Mutter für die Sprachversiertheit. Ein Glücksfall für Gedda war es sicherlich auch, daß er nach dem Abitur dem einstmals berühmten Carl-Martin Oehmann vorsang und von ihm als Privatschüler angenommen wurde. Oehmann war einer der wenigen dramatischen Tenöre unseres Jahrhunderts, der trotz seiner großen Stimmfülle (vom Material her eher baritonal geprägt als das eines Lauritz Melchior) auf der Kunst des lyrischen Singens bestand.
 Hört man heute etwa sein „Un di all’azzuro spazio“ aus Giordanos „Andrea Chénier“ oder den deutsch gesungenen Tod des Othello, kann man sich vorstellen, auf welches Ideal des Singens hin Oehmann seinen jungen Schüler geleitet hat. Dabei entging er auch der Versuchung, den jungen Gedda in eine spezielle Nachfolgerrolle zu zwingen: Er sollte weder ein zweiter Oehmann werden, noch ein zweiter Jussi Björling (der wiederum Oehmanns berühmter erster Schüler gewesen war).
Von Oehmann jedenfalls lernte Gedda als Grundvoraussetzung des Singens, daß erst die Fähigkeit, jedwede Phrase legato zu artikulieren, den Sänger in die Lage versetzt, musikalische Sinnzusammenhänge herzustellen. Und wenn man darin so puristisch ist wie Gedda, kommt als zweite Grundvoraussetzung hinzu: die Notwendigkeit, solche musikalischen Sinnzusammenhänge senualistisch zu vermitteln – mittels einer Dramaturgie der Stimmfärbung. Die Stimme färben kann aber nur (will er nicht zum unfreiwilligen Komiker werden), wer über den Einschwingvorgang selber bestimmt. Während andere froh sind, einen Ton zu produzieren (und daher kommt die Eintönigkeit der heute „führenden“ Operntenöre), ist er für Gedda nur Baustein in einem größeren Zusammenhang. Das hat man ihm oft als Kühle ausgelegt, aber es ist die Kühle dessen, der Kunst aus dem Bewußtsein vom Stellenwert ihrer Materialien praktiziert.
Zu einer Ausnahmeerscheinung ist Gedda auch dadurch geworden, daß er – wohl als einziger berühmter Tenor unserer Zeit – im Lauf seiner Karriere „besser“ geworden ist. Seit seinem Debüt vor dreißig Jahren im „Postillon von Longjumeau“ und der im gleichen Jahr, 1952, gemachten Schallplattenproduktion des „Boris Godunow“ unter Issay Dobrowen (ein Vierteljahrhundert später sang Gedda den falschen Demetrius in der Ersteinspielung der Originalfassung eher noch aufrührerischer und verführerischer) ist Gedda so etwas wie die Stimme der Musik im Tenorfach. An solchem Glück der Beständigkeit teilzuhaben, nimmt einem manche Hörfrustration im Umgang mit sogenannten Gesangsgrößen von heute.